Madrid in doppelter Krise

Jahresrückblick 2012. Heute: Spanien. Ein Land zwischen wirtschaftlicher Rezession und territorialem Zerfall

Das zu Ende gegangene Jahr 2012 begann in Spanien mit den ersten Schritten der neuen Rechtsregierung. Am 20. Dezember 2011 war Mariano Rajoy als neuer Ministerpräsident vereidigt worden, nachdem seine Volkspartei (PP) mit dem besten Wahlergebnis ihrer Geschichte die sozialdemokratische Regierung unter José Luis Rodriguez Zapatero abgelöst hatte. Vor dem Hintergrund einer Arbeitslosenquote von 21,65 Prozent sowie einem Haushaltsdefizit, das nach mehrmaligen Korrekturen letzten Endes auf 8,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) beziffert wurde, verkündete die Regierung Rajoy ihren Sparkurs.

Erklärtes Ziel war, das Budgetdefizit auf 4,4 Prozent im Jahr 2012 zu senken.

Doch auch die drastischen Einschnitte im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer konnten keine entscheidende Wende bringen. Unterdessen formierten sich Protest und Widerstand. Der erste Generalstreik am 29. März mobilisierte Hunderttausende Menschen im gesamten spanischen Staat und wurde nach Gewerkschaftsangaben von rund 77 Prozent der Beschäftigten befolgt. Die Polizei reagierte mit äußerster Härte auf die Demonstrationen. Mehr als 100 Verletzte und etliche Festnahmen waren die Bilanz der Tränengas- und Schlagstockeinsätze und Menschenjagden. In Barcelona räumte die Polizei ohne Vorwarnung die zentrale Plaça Catalunya unter Einsatz von Gummigeschossen. Ein Demonstrant verlor dabei ein Auge.
Die »Empörten«
Im Mai organisierte die Bewegung der »Empörten« anläßlich des einjährigen Bestehens dieser internationalen Bewegung die Besetzung von Plätzen in verschiedenen Städten des spanischen Staates. Infoveranstaltungen, Plenen und der Austausch zwischen den einzelnen Gruppen und Kollektiven zur Organisierung zivilen Ungehorsams bildeten den Schwerpunkt dieser Aktionen. Neben Kundgebungen und Demonstrationen für einen sozialen Wandel gab es auch symbolische Angriffe auf Kapitaleinrichtungen. In Madrid und Barcelona wurden zentrale Plätze mehrfach geräumt und immer wieder neu besetzt. Die Aktionen dauerten mehrere Tage an.

Am 22. Juni schlossen sich Bergleute in Asturien zu einem »schwarzen Marsch« zusammen. 80 Arbeiter, begleitet von Angehörigen, machten sich auf den Weg nach Madrid, um gegen die Schließung der Bergwerke zu protestieren. Im Mai hatten sie den Kampf um ihre Arbeitsplätze begonnen, die der Sparpolitik Rajoys zum Opfer fallen sollten. Subventionskürzungen von 190 Millionen Euro, die im Staatssäckel bleiben und der Bankenrettung dienen sollen, bedrohten 14000 Arbeitsplätze. Am 10. Juli traf der Protestzug nach 400 Kilometern Fußmarsch in Madrid ein. 300000 Personen begrüßten die Marschierenden und forderten am Tag darauf die Aufrechterhaltung der Subventionen. Die Antwort der Staatsmacht waren erneut Gummigeschosse und Knüppeleinsätze. Insgesamt mußten acht Festnahmen und über 70 Verletzte verzeichnet werden. Über eine Erhaltung der Arbeitsplätze soll erst 2013 entschieden werden.

Spektakuläre Aktionen der Andalusischen Arbeitergewerkschaft (SAT) unterbrachen die parlamentarische Sommerpause. Am 7. August organisierten die SAT sowie der Bürgermeister der kleinen andalusischen Ortschaft Marinaleda, Manuel Sánchez Gordillo, »Lebensmittelbeschaffungsmaßnahmen«. Sie entwendeten in Supermärkten Grundnahrungsmittel und verteilten sie an Bedürftige. Diese Aktionen fanden schnell Nachahmer auch in anderen Regionen des Landes.
Widerstand
Die Rajoy-Regierung sah sich so immer mehr sozialem Widerstand gegenüber. Im gesamten Staatsgebiet häuften sich Proteste gegen die Kürzungen im Gesundheits- und Bildungsbereich. Und am 11. September erlebte die Regierung noch eine Ansage anderer Art. Diesmal kam aus Katalonien ein bisher nie gekannter Massenprotest mit der Forderung nach Unabhängigkeit. Eine Million Menschen demonstrierten am katalanischen Nationalfeiertag für dieses Ziel, aufgerufen von der parteiunabhängigen Assemblea Nacional Catalana (ANC, Katalanische Nationalversammlung). Auch die katalanische Regionalregierung der bürgerlichen CiU, die auf die Unterstützung der PP angewiesen war, sah sich unter Druck gesetzt. Sie wollte in Madrid einen Pakt verhandeln, der Steuererleichterungen für Katalonien vorsehen sollte. Der Bevölkerung reichten solche kleinen Schritte jedoch nicht mehr. Daraufhin wurden für November vorgezogene Neuwahlen festgesetzt.

Neuwahlen gab es im Oktober auch in Galicien und im Baskenland. In Galicien gewann wie erwartet die rechte PP mit absoluter Mehrheit. Im Baskenland konnte sich mit EH-Bildu erstmals nach den zahlreichen Parteiverboten wieder eine Vertretung der abertzalen Linken, die für die Unabhängigkeit des Baskenlandes vom spanischen Staat steht, antreten. Auf Anhieb gewann sie 25 Prozent der Stimmen und zog mit 21 Abgeordneten als zweitstärkste Kraft nach der nationalkonservativen PNV ins Parlament ein.

Nachdem die »Empörten« am 25. und 29. September erneut zu Protesten aufgerufen hatten, darunter der von der Polizei niedergeschlagenen Umzingelung des Parlaments in Madrid durch mehr als 100000 Menschen, riefen die Gewerkschaften für den 14. November erneut zu einem Generalstreik auf. Wieder ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen die Protestierenden vor. Der Generalstreik wies nach Gewerkschaftsangaben eine Beteiligung von 85 Prozent auf und führte in Barcelona zur größten Demonstration in der Geschichte der spanischen Generalstreiks. Bei Polizeieinsätzen verlor hier erneut eine Demonstrantin durch Gummigeschosse ein Auge.

Unterdessen gewann die Kampagne gegen Zwangsräumungen zunehmend an Stärke. Seit am 9. November in Barakaldo eine ehemalige Abgeordnete der sozialdemokratischen Partei PSOE Selbstmord beging, um sich einer Zwangsräumung zu entziehen, weigerten sich mehrere Gemeinden solche Räumungen zu veranlassen. Der Staat verabschiedete in aller Eile ein Gesetz, das Zwangsräumungen allerdings nur in sehr speziellen Fällen ausschließt. Laut der »Plattform gegen Zwangsräumungen« wurden allerdings allein zwischen Januar und September 2012 mehr als 126000 Räumungen durchgeführt. Betroffen sind Personen, die ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen können. Sie müssen die Wohnung räumen, die Schulden dafür jedoch weiterhin an die Banken abzahlen. Seit Beginn der Krise in Spanien wurden Schätzungen zufolge rund 334000 Zwangsräumungen durchgeführt.
Visca Catalunya!
Ende November kam es in Katalonien zu den vorgezogenen Neuwahlen, die im Zeichen eines angekündigten Referendums über die Unabhängigkeit des Landes standen. Die konservativ-nationalistische CiU mußte dabei ihrer Kürzungspolitik Tribut zollen und verlor erheblich Stimmen. Zweite Kraft wurde die sozialdemokratische Unabhängigkeitspartei ERC. Erstmals stellte sich die linke CUP zur Wahl und konnte nach einem Wahlkampf für Sozialismus und Unabhängigkeit mit drei Mandaten ins Parlament einziehen.

Nach langen Verhandlungen konnte die CiU eine von der ERC tolerierte Minderheitsregierung bilden. Diese hat die Durchführung des Referendums für 2014 angekündigt, was die Zentralregierung in Madrid mit aller Macht und unter Berufung auf die in der Verfassung verankerten Unteilbarkeit des spanischen Staates zu verhindern sucht.

Unterdessen konnte die Regierung Rajoy trotz aller Kürzungen die Krise nicht eindämmen. Die Arbeitslosigkeit stieg bis Oktober auf den bisher höchsten Stand von 25,2 Prozent; das bedeutet, daß offiziell 5778100 Menschen ohne Arbeit sind. Besonders betroffen: Frauen und Jugendliche. Erkämpfte Errungenschaften im Arbeitsrecht wurden zurückgenommen und schwächten die Position der Arbeitenden.

Experten des Internationale Währungsfonds (IWF) rechnen damit, daß das Budgetdefizit 2013 bei 5,7 Prozent liegen wird und die Staatsschulden auf 90,7 Prozent steigen.

veröffentlicht in jw am 07_01_2013