Rückkehr an die Schulen unter prekären Bedingungen. Hausaufgaben nicht gemacht!
Die Schüler*innen in Spanien kehren wieder in die Klassenräume zurück. Nachdem die Schulen und Kitas am 13. März dicht gemacht hatten, soll es im September endlich wieder losgehen. Doch wie sicher ist die Rückkehr zum Präsenzunterricht wirklich?
Derzeit diskutieren Elternvertretungen, Gewerkschaften sowie betroffene Lehrkräfte und Schüler*innen noch hitzig über die Bedingungen eines sicheren Schulstarts. Dazu gehören Hygienevorschriften wie Handdesinfektion, Stoßlüften der Räume, Maskenpflicht ab sechs Jahren, reduzierte Stammgruppen mit maximal 20 Schüler*innen soweit es die Einrichtungen zulassen und Gruppen bis zu 30 in den Gymnasien. Ferner soll täglich vor Eintritt in die Einrichtung die Temperatur gemessen und bei Auftreten einer Covid-19-Erkrankung die Stammgruppe in Quarantäne geschickt werden. In Katalonien sind zusätzlich zwischen dem 15. September und 15. November 500.000 PCR-Tests an Schulen programmiert, die autonome Gemeinschaft Madrid hat 100.000 Tests geplant.
Die Kompetenzen der Rückkehrbedingungen an die Zentren liegen weitgehend bei den autonomen Gemeinschaften. Einig sind sich diese darin, dass zum Unterricht vor Ort zurückgekehrt werden soll. Doch dabei gibt es Unterschiede. Unterdessen sind die Vorzeichen für den geplanten Schulstart aufgrund steil
ansteigender Covid-19-Erkrankungen alles andere als günstig.
Mit Auftreten der Pandemie hatten sich die Konsequenzen der Sparpolitik und Privatisierungen im Gesundheits- und Bildungswesen dratisch abgezeichnet. Jahrelang Versäumtes konnte nicht kurzfristig aufgeholt werden und die Folgen sind traumatisch, tödlich oder beides. Das Gesundheitssystem war während drei Monaten fast gänzlich zusammengebrochen und in den Bildungseinrichtungen blieben über 8 Millionen Schüler*innen mit eingeschränktem Recht auf Bildung. Insbesondere Kinder und Jugendliche aus ökonomisch schwachen Familien blieb das Recht auf Schulbildung versagt, da sie nicht über die für den online-Unterricht notwendigen Resourcen verfügen. Bestenfalls wurden Büchersendungen und Unterrichtsmaterial verschickt, doch auch da kam man schnell an die Grenzen, weil die Zentren oft nicht über die korrekten Adressen ihrer Schüler*innen verfügten oder die Kommunikationswege zu umständlich waren.
Sechs Monate hatten nun die Verantwortlichen in den Bildungsministerien Zeit, um auf die veränderte Lage zu reagieren. Doch die Hausaufgaben erledigten sie mehrheitlich nicht.
Am 25. August verkündeten die Präsidentin der Autonomen Gemeinschaft Madrid Isabel Díaz Ayuso und ihr für 1,2 Millionen Schüler*innen verantwortlicher Bildungsminister Enrique Ossorio den geplanten Einstieg in die Schulen und Kitas. Madrid, als die Gemeinschaft bekannt, die am wenigsten in den Bildungssektor investiert, will nun 10.610 Lehrkräfte vorübergehend beschäftigen, wovon 600 bereits vorgesehen waren und 2.662 in semiprivate Schulen gehen. Bei der Finanzierung von 370 Millionen Euro wird auch auf staatliche Töpfe zurückgegriffen. Ferner kündigte Ossorio den Kauf von 70.000 Labtops und die Installation von 6.000 Kameras an. Engen Raum entzerren sollen ausgelagerte Unterrichtseinheiten in dafür bereitgestellten Behilfsbauten und Räume in öffentlichen Einrichtungen. Da die Forderungen von Initiativen wie „Marea por la educación pública“ und Gewerkschaften nach einer Umstrukturierung des Bildungswesens mit einer nennenswerten Erweiterung der Belegschaft nicht erfüllt wurden, hielten diese an ihrem für den Schuljahresbeginn angekündigten Streik in Madrid fest. „Die Ratio von Lernenden auf einen 40 m2 Raum zur Wahrung der Distanz liegt bei 17 und nicht bei den vorgesehenen 23, aber das ist nur einer der Gründe, warum die Sicherheitsgarantien nicht ausreichend sind“, erklärt Esteban Álvarez von der Direktorenvereinigung Adimad gegenüber der spanischen Tageszeitung El Pais. Álvarez kritisiert auch die geplante Stufenrückehr an die Schulen: „Das ist etwas Improvisiertes und stellt keine Lösung des Problems“ so der Schuldirktor.
Anders als Madrid managte es die Autonome Gemeinschaft Valencia. Dort gibt es seit Monaten einen Austausch zwischen Bildungsministerium, Lehrkräften, Gewerkschaften, Direktor*innenvereinigungen und Elternvertretungen. Mit dem gemeinsam ausgearbeiteten Aktionsplan erfüllt Valencia als einzige Autonome Gemeinschaft die von Gewerkschaften und verschiedenen Initativen geforderten Ratio: Lehrtätige – pro Kind – pro Quadratmeter. Dazu wurden laut Bildungsminister Vicent Marzá für die 800.000 Schüler*innen 4.374 Lehrkräfte neu eingestellt. Gekostet hat dies die Gemeinschaft 207 Millionen Euro. Für den Fall, dass die Bedingungen keinen Präsenzunterricht erlauben, wurden zusätzlich 29.000 Labtops bestellt.
In Katalonien garantierte indessen der katalanische Erziehungsminister Josep Bargalló, verantwortlich für mehr als 1,5 Millionen Schüler*innen, den Präsenzunterricht für Schulen und Kitas während des kommenden Schuljahres. Für die Neueinstellung von ca. 8000 Lehrkräften plus Zusatzpersonal machte die Generalitat rund 456 Millionen Euro locker. Ferner wurden Labtops für 300.000 Schüler*innen ab der 9. Klasse sowie 85.000 Lehrkräfte bestellt.
Doch reichen diese Maßnahmen auch hier bei weitem nicht aus, um der schwierigen Situation zu begegnen. Gewerkschaften und Elternvereinigungen kritisieren, dass viele Schulen und Tagesstätten reduzierte Gruppen aus Platzmangel nicht garantieren können und sich auch eine Abstandseinhaltung nur bedingt oder gar nicht realisieren lässt. Auch wenn inzwischen öffentliche und private Träger der von Minister Bargalló bereits im Mai geforderten Bereitstellung für Unterrichtsraum nachkommen, ist das Platzproblem nicht behoben.
Das Bildungswesen im Zeichen des Covid-19 – eine verpasste Lektion? In der Tat werden Pflästerchen aufgeklebt, wo eine chirurgische Intervention nötig wäre. Denn obwohl während des Alarmzustandes und dem damit verbundenen Lockdown deutlich wurde, wie essenziell notwendig das akademische aber vor allem das soziale Lernen in den Bildungseinrichtungen ist, bleiben die notwendigen Investitionen aus. Was bereit gestellt wird, ist ein Tropfen auf den heißen Stein.
Ein halbes Jahr hatten die Verantwortlichen Zeit, um ein Sicherheits- und Hygienekonzept zu entwickeln, das allen Betroffenen Vertrauen auf größtmöglichen Schutz geben sollte. Es geht mit den Schüler*innen um die Zukunft einer Generation und die Lehrtätigen tragen dazu bei und setzen ihre Gesundheit aufs Spiel. Deshalb sind die Gewerkschaften und viele Betroffene nicht zufrieden. Ihr Motto ist die Risikominimierung, auch wenn sie Geld kostet: Eine Gruppenreduzierung im Krippen- und Kindergartenbereich, wo die Kinder weder Masken tragen noch Abstand einhalten können sei unerlässlich, so die Forderung. Generell müssten die Gruppen klein gehalten werden, denn die Gefahr einer Ansteckung ohne die Wahrung von Distanz und bei vielen Sozialkontakten ist hoch. Inzwischen wurde beispielsweise in Katalonien das Zusammentreffen auf maximal 10 Personen reduziert, da ist eine Schüler*innenanzahl von 20 plus pro Stammgruppe nur schwer nachvollziehbar.
Dass höchstmöglicher Schutz nötig ist, zeigt auch eine Umfrage, nach der 45% der mit Covid-19-Positiven in Kontakt gekommenen Personen die Quarantäne-Maßnahmen ignoriere. Unzureichende Sicherheitsvorkehrungen sind nicht nur kurzsichtig und unökonomisch, sondern schlichtweg fahrlässig.
Doch nicht nur die kritikwürdigen Schutzmaßnahmen sollten im Rampenlicht der Debatte stehen. Auch pädagogische, an die besondere Situation angepasste und die Bedürfnisse der Kinder und Jugendliche berücksichtigenden Punkte sollten diskutiert werden und Einfluss auf die Gruppenzusammensetzung und Rahmenbedingungen haben. Denn die Schüler*innen kehren nach einem halben Jahr unter völlig neuen Prämissen in ihre Einrichtung zurück. Zwei von sechs Monaten verbrachten sie unter den extremen Bedingungen eines strikten Lockdowns, als sich im März von einem Tag auf den anderen ihr Leben schlagartig veränderte. Eingeschränkter Bewegungsradius, fehlende persönliche soziale Kontakte und häufig ein Zusammenleben auf engem Raum unter ökonomischen Unsicherheiten führten nicht selten zu Spannungen und Konflikten in der Familie und häufig auch zu häuslicher Gewalt, insbesondere gegen Frauen und Kinder.
Eine sichere Rückkehr in die Schule und Kitas sollte nicht nur notwendigen Schutz vor Ansteckung sondern vor allem auch ein pädagogisch durchdachtes Konzept zum Umgang mit den durchlebten Erfahrungen und den spezifischen Anforderungen an die veränderte Situation beinhalten.