Proteste gegen insgesamt 100 Jahre Gefängnis für 9 PolitikerInnen und 2 Bürgerrechtler halten an. Katalanischer Präsident will neues Referendum
Eine gewählte Regierung sowie zwei Vorsitzende aus kulturellen und basisdemokratischen Organisationen Kataloniens werden zu insgesamt 100 Jahren Gefängnis verurteilt. Aus einem politischen Konflikt ist längst eine juristisch-politische Angelegenheit geworden, die nicht gut ausgehen konnte. Das fehlende Möbelstück im Bericht des Sternreporters Till Bartels bringt es originell auf den Punkt. Spanien will nicht verhandeln. Der Zentralstaat darf nicht zerbrechen, denn der nationalistische Gedanke prägt von rechts bis links. Was wäre so schlimm daran, würde eine Nation, die auf Völkermord an der indigenen Bevölkerung Amerikas beruht, nach Jahren einer faschistischen Diktatur unter Franco, konservativen, postfranquistischen Regierungen mit Korruptionsverfahren und einer „sozialistischen“ Regierung , die die Todesschwadronen GAL auf abertzale AktivistInnen ansetzte, auseinanderbräche? Staaten zersplitterten in Europa, weil es vorwiegend kapitalisitschen Interessen entsprach. Warum kann sich ein Staat nicht teilen, wenn sich die Mehrheit seiner Bevölkerung weder kulturell noch politisch von ihm repräsentiert fühlt und dies in einer basisdemokratischen Abstimmung zum Ausdruck bringt? Wieviel Demokratie verträgt Europa überhaupt?
Polizei setzt auf Eskalation
Seit dem Urteilsspruch am Montag gibt es massive Protestaktionen dagegen. Am selben Tag mobilisierte die virtuelle Plattform „Tsunami demòcratic“, demokratischer Tsunami, über ihren Telegram Kanal zu einer Stunden andauernden Flughafenbesetzung. Tausende Menschen legten dabei den Flugverkehr zeitweise still. Bei dieser Aktion zeigte sich bereits eine Tendenz, die sich die kommenden Tage bei den Protesten fortsetzen sollte. Die Polizei setzt auf Eskalation. Bei der Flughafenblockade verlor ein 22-jähriger durch ein Foam- oder Gummigeschoss ein Auge weil die katalanischen Mossos und die spanische Nationalpolizei aus nächster Nähe und indiskriminiert in die Menge schossen.
Gewaltfreiheit war und ist das Motto der Unabhängigkeitsbewegung. Massenproteste wie beispielsweise am Dienstag vor der spanischen Regierungsvertretung, oder die Aktionen zu denen die Komitees zur Verteidigung der Republik CDR’s aufgerufen hatten, endeten jedoch in Strassenschlachten. Ausgegangen war nach Augenzeugenberichten und auch den Tweets der BBC Reporterin Jean Mackenzie brutale Angriffe der Mossos auf die Demonstrierenden.
Die Bilder brennender Container schlachten inzwischen nicht nur die Medien aus, auch die Parteien gehen damit auf Wahlstimmenfang. Und dabei wird weiterhin Öl ins Feuer gegossen. Vor lauter Brand könnte schnell der Kontext vergessen werden und bei manchen Aktionen fehlt dieser sicherlich auch gänzlich. Nicht nur in Barcelona, wo es zu den zahlenmässig grössten Auseinsandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Polizei kam, wird deutlich, dass die Polizei die Gewaltschraube intentioniert hochdreht. Mit rasender Gesschwindigkeit fahren Polizeifahrzeuge in die demonstrierende Menge, um sie auseinander zu treiben. Dabei wurden in Tarragona zwei Demonstranten von Polizeitransportern erfasst und zum Teil mitgeschleift. Einer der Überfahrenen liegt nun mit einem Schädeltrauma im Krankenhaus. Bilder knüppelschwingender Mossos auf unbeteiligte Demonstrierende nicht nur im jugendlichen Alter provozieren auch Gegenwehr. Nicht jede brennende Blockade hat diesen Hintergrund. Doch hätte die Polizei die Gewalt nicht eskaliert, wären die Bilder aus den letzten Nächten andere.
Rücktritt des Innenministers gefordert
Angesichts des Vorgehens der Mossos d’Esquadra werden immer mehr Stimmen laut, die den Rücktritt des katalanischen Innenministers Miquel Buch fordern. Waren es zunächst die antikapitalistische CUP und studentische Gewerkschaften, so gibt es inzwischen auch in anderen Spektren starke Kritik am Vorgehen der Mossos und dem verantwortlichen Innenminister. Dieser bekommt jedoch Rückendeckung von höchster Stelle. Präsident Quim Torra verteidigte seinen Minister und das Agieren der Mossos öffentlich. Spätestens seit dem heutigen Abend dürften jedoch diejenigen, die noch an Buch festhalten in Bedrängnis kommen. Denn es ist schwer zu begründen, dass auf einer Versammlung spanischer Faschisten auf der „Sieg Heil“ gebrüllt, die faschistischen Hymne „Cara al Sol“ gesungen und mit „Hitlergrüssen“ die antifaschistische Gegendemo provoziert wird, die Mossos lediglich auf die AntifaschistInnen einschlagen. Die Faschisten lassen sie hingegen durch die Strassen ziehen, bis sie schliesslich ungehindert auf die Kundgebung der CDR’s treffen.
Katalanische Regierung unter Druck
Die harte Hand mit der die katalanische Polizei agiert, kommt nicht von Ungefähr. Madrids Auge ruht auf Katalonien und die postfranquistische PP sowie die neoliberalen Unionisten Ciutadanos, C’s – Bürger verlangen offen die Aufhebung des Autonomiestatuts unter Anwendung des Artikel 155, durch den bereits nach dem Unabhängigkeitsreferendum vor zwei Jahren die katalanische Regierung aufgelöst und deren Insitutionen Madrid unterstellt worden waren. Im Rahmen der zu erwartenden Proteste gegen das Urteil wurden im Vorfeld 1.800 Guardia Civils und Nationalpolizisten in Katalonien stationiert.
Die derzeitige Regierungsunfähigkeit des Zentralstaates und die auf den 10. November angesetzten Neuwahlen haben den Konflikt um Katalonien zu einem zentralen Wahlkampfthema gemacht und Torra will Madrid nun beweisen, alles im Griff zu haben. Bilder von brennenden Containern passen da schlichtweg nicht und so gibt er seinem Innenminister und den Mossos freie Hand.
Auch innenpolitisch ist Torra unter Druck. Nachdem er heute im Alleingang ein neues Referendum angekündigt hat, sind seine republikanischen KoalitionspartnerInnen der ERC sauer. „Es handle sich um eine persönliche Meinung Torras, am Verhandlungstisch würde dies nicht angestrebt“ war die erste Reaktion aus ERC-Kreisen. Auch die CUP lehnte ein Referendum definitiv ab.
Proteste und Generalstreik
Inzwischen gehen die Proteste weiter. In allen Städten Katalonien kommt es täglich zu Kundgebungen und Versammlungen, an denen Tausende Menschen teilnehmen. Am heutigen Donnerstag riefen studentische Gewerkschaften zum Streik auf und besetzten die Rektorate der Universitäten in Barcelona. Mit ihrer Aktion erreichten sie, dass die Universitäten am morgigen Generalstreik geschlossen bleiben. Zu diesem hatte die Gewerkschaften Intersindical CSC sowie die IAC aufgerufen. Mit Mindestlohnforderungen und Arbeitsrechtsreformen begründeten sie den Streikaufruf, allerdings ist die politische Ausrichtung ein offenes Geheimnis. Der Generalstreik soll die Infrastruktur lahmlegen, um damit gegen das Urteil zu protestieren. Die grossen Gewerkschaftsdachverbände haben sich nicht angeschlossen, dennoch wird mit einer starkenBeteiligung gerechnet. Rechtzeitig zum Generalstreik werden auch die Märsche in der katalanischen Metropole eintreffen, die von fünf Städten aus am Mittwoch gestartet waren und an denen sich Tausende unter dem Motto: „Für die Freiheit“ beteiligen.