Der Ingenieur und Linguist Carles Castellanos ist Vizepräsident der im März gegründeten Katalanischen Nationalversammlung ANC (Assemblea Nacional Catalana). Als einer der historischen Figuren der Unabhängigkeitsbewegung erlebte er persönlich Repression und Verfolgung. Mela Theurer sprach im November 2012 mit ihm über die aktuellen Entwicklungen im historischen Kontext, die emanzipatorische Komponente des Prozesses, sowie die Möglichkeit einen sozialen Wandels innerhalb dieser heterogenen Bewegung voranzubringen.
Wie bewerten Sie die momentane Entwicklung in Katalonien – ist die Krise der Hauptmotor für das Erstarken der Unabhängigkeitsbewegung?
Die momentane Entwicklung steht im Kontext einer seit über 50 Jahren andauernden Arbeit für soziale Veränderung und Unabhängigkeit der Katalanischen Länder. Den Hauptwiderspruch sehe ich zwischen dem spanischen Staat und der katalanischen Bevölkerung, die sich weder politisch und ökonomisch noch kulturell frei entfalten kann.
Was im Moment passiert, ist eine Reaktion: die Politik des spanischen Staates nicht mehr hinzunehmen und den von ihm vorgegebenen Rahmen zu verlassen. Dabei ist der ökonomische Faktor einer von vielen.
Welche Rolle spielt die Katalanische Volksversammlung Assemblea Nacional Catalana (ANC) dabei?
Die ANC ist die wesentliche Kraft in diesem Prozeß. In ihr sind alle Klassen, vor allem aber Teile der sozialen Basisbewegungen vertreten. Eines ihrer wichtigsten Merkmale ist die Verankerung in der Bevölkerung. Die ANC ist keine Partei und nimmt folglich auch nicht an den Wahlen teil. Die Mitgliedschaft findet auf individueller Ebene statt, und insofern gibt es auch keinerlei Unterstützung für eine politische Richtung. Die Unabhängigkeit von Parteiinteressen und die soziale Verankerung ermöglichen es der ANC, Kräfte zu bündeln, wie es beim Aufruf zur Großdemonstration am 11. September zu sehen war. Die hatte eine Beteiligung, wie wir sie bislang nicht kannten. Umgekehrt übt die ANC sicherlich Einfluß auf die Parteien aus. Die Assemblea wird von breiten Schichten getragen, allerdings gibt es eine kleine Fraktion der linken Unabhängigkeitsbewegung, die die Arbeit der ANC kritisiert. Diese Formierung hält ein Referendum erst dann für sinnvoll, wenn alle Katalanischen Länder also auch Nordkatalonien, der Teil in Frankreich sowie die Balearen und Valencia beteiligt sind. So weit sind wir aber noch lange nicht. Und so steht für die ANC erst mal die Loslösung Kataloniens im Vordergrund. Wenn dies erreicht ist, muß der Rahmen bestimmt werden, in dem sich die ANC am politischen und sozialen Aufbau eines neuen Staates beteiligen will.
In welchem Verhältnis stehen die nationale und die soziale Frage in der Gegenwart?
Im Rahmen der momentanen politischen Verhältnisse in Europa sehe ich den Prozeß in Katalonien nicht in eine soziale Revolution münden. Aber es ist zunächst einmal eine Befreiung in kultureller und politischer Hinsicht, mit der Chance, einen neuen Staat zu schaffen, der für mich ganz klar die Form einer Republik haben muß. In ihm kann und muß es soziale Veränderung geben. Die 1,5 Millionen Menschen, die am 11. September auf die Straße gegangen sind, stammen zu 80 Prozent aus der Arbeiterklasse und wollen in einem neuen Staat ihre sozialen Interessen vertreten sehen. Das ist aber keine Einheitsbewegung. Deshalb gibt es unterschiedliche Vorstellungen, wie dieser Staat auszusehen hat. Ein sozialistischer Staat wird es vorerst mit Sicherheit nicht sein. Aber vielleicht kommt eine Veränderung dahingehend schneller, als wir es uns vorstellen, da der Kapitalismus an seine Grenzen gestoßen ist. Wie es weitergehen wird, bleibt ein offener Prozeß. Die Unabhängigkeit ist nicht als endgültiges Ziel, sondern vielmehr als Medium zu einer sozialen Veränderung zu sehen.
Haben Sie persönlich diese Entwicklung erwartet?
Vor einem Jahr, als ich sah, welche Dynamik die Consultes per la independència (Befragungen über die Unabhängigkeit) entwickelten und als sich schließlich die ANC gründete, habe ich den revolutionären Charakter dieser Bewegung gespürt. Nicht im klassischen Sinne einer Revolution, sondern vielmehr, daß eine grundlegende Veränderung möglich ist. Nach so vielen Jahren sozialen und politischen Eingreifens ist das ein bewegender Moment. Es zeigt auch, daß aus unterschiedlichen Kämpfen und starker Unterdrückung die Bewegung immer wieder gestärkt hervorgeht – und diesmal mehr denn je. Die Repression gegen angebliche Mitglieder der Terra Lliure während der Olympischen Spiele 1992 in Barcelona hat die Bewegung stark getroffen. Es hat lange gedauert, bis sie sich wieder formiert hat. Jetzt gibt es viel zu tun, und ich sehe ein großes Interesse in der Bevölkerung, diesen Prozeß aktiv mitzugestalten. Für mich persönlich bedeutet es, nicht lockerzulassen und das Unmögliche möglich zu machen.
veröffentlicht in jw am 24_11_2012