Der Generalstreik in Katalonien ist ein voller Erfolg. Nach wiederholter brutaler Polizeigewalt stellt sich die Frage nach Verantworlichkeit und Perspektiven
Spektakuläre Bilder am Tag des Generalstreiks aus den Strassen Barcelonas. Zehntausende marschieren unter dem Motto „Für die Freiheit“ auf die katalanische Metropole zu. Kilometerlange Schlangen, Menschen, die seit drei Tagen unterweg sind, andere, die sich auf halbem Weg eingereiht haben. Aus Girona, Berga, Tarragona, Vic und Tàrrega sind sie unterwegs, um gegen die Urteile gegen katalanische PolitikerInnen und Repräsentanten der Unabhängigkeitsbewegung vom vergangenen Montag zu demonstrieren. Auf den Stationen ihres Marsches wurden sie mit offenen Armen empfangen. Privathäuser boten Schlaf- und Rastplätze, Gemeinden organisierten Volksküchen und Frühstück, Verpflegung gabs von überall her für den Weg. Schon weitvor dem Aufruf zur Kundgebung um 17 Uhr von ANC und Òmnium Cultural waren die Strassen und Plätze überfüllt und in ein Farben- und Fahnenmeer verwandelt. Überall erschallen Sprechchöre wie „Freiheit für die politischen Gefangenen“, „die Strassen gehören uns“ und „Independència“- Unabhängigkeit.
Generalstreik übertrifft Erwartungen
Die zum Streik aufrufenden Gewerkschaften Intersindical CSC und IAC haben sprachen in einer ersten Auswertung von einem vollen Erfolg. Die am Streiktag vorliegenden Zahlen übertrafen bereits zur Mittagszeit, die des historischen Generalstreiks vom 3. Oktober 2017, mit dem zwei Tage nach dem Unabhängigkeitsreferendum Druck auf die Regierung als Mandatsträger ausgeübt und gegen die damalige Polizeiübergriffe demonstriert wurde.
In den Bildungseinrichtungen lag die Beteiligung mit über 40 % an den öffentlichen Schulen und etwas geringer an den privaten und geförderten, über den Ergebnissen vom letzten Streik. An den Universitäten gab es eine Beteiligung von 90%, auch deshalb weil im Vorfeld studentische Organisatinen durch Aktionen die Rektorarte veranlassten, die meisten Universitäten in Barcelona zu schliessen. Im Gesundheitsbereich folgten rund 40% dem Aufruf in Barcelona, Märkte, kleine Geschäfte, aber auch Einkaufszentren blieben geschlossen. Der Autohersteller SEAT in Martorell hatte die Produktion bereits ab der Nachtschicht eingestellt, weil befürchtet wurde, dass notwendiges Zuliefermaterial nicht ankomme. Der zentrale Markt in Barcelona zeichnete Verluste zwischen 40% und 80% je nach Produkten und die HafenarbeiterInnen streiken zu 100%.
Die Berichterstattung der Medien und Gewalt gegen JournalistInnen
Die Schlagzeilen fast aller Medien kreisen nach dem Streik jedoch einmal mehr um brennende Barrikaden und Objekte werfende Demonstrierende. Von Chaoten, Krawallen und Gewalt ist die Rede. Videos, in denen JournalistInnen aus der Menge heraus mit Dosen beworfen werden, stossen bei KollegInnen auf Unverständnis, geäussert in tweets wie diesem von Hans-Günther Kellner: „Völlig unverständlich. (…) TV-Teams werden so lange beworfen, bis sie abbrechen. Dabei demonstriert man doch, weil man wahrgenommen werden möchte. Dachte ich.“ Falsch gedacht. Eine Wahrnehmung um jeden Preis, in einem verzerrten Kontext wünscht sich niemand. Dass deswegen journalistische Arbeit behindert wird ist weder grossartig noch wünschenswert. Es ist aber auch keine Besonderheit. Jordi Borràs, Fotojournalist mit Schwerpunkt auf faschistischen Verflechtungen europaweit kann schon lange keine Veranstaltungen von Neonazis mehr dokumentieren. Er wurde mehrfach mit dem Tode bedroht und in der Innenstadt Barcelonas letzten Sommer von einem Polizisten der spanischen Nationalpolizei ausser Dienst brutal zusammengeschlagen. Doch mit Neonazis und deren Gepflogenheiten lässt sich die Unabhängigkeitsbewegung nicht vergleichen. Die Objektwürfe sind eher spontan und haben keinen personalifizierten Hintergrund. Vielmehr richten sie sich gegen eine einseitige Medienberichterstattung und schliessen selbst den katalanischen Fernsehsender TV3 mit ein,. Sie richten sich gegen eine subjektive und ideologisierte Darstellung von Ereignissen, die Hintergründe ausblenden oder verfälschen und den Gewaltaspekt seitsns der DemonstrantInnen fokusieren. Kritischer Journalismus verlangt eine kontextuelle und genaue Berichterstattung und genau dieses Manko macht die DemonstrantInnen so sauer.
Wer gestern und in den letzten Nächten als ReporterIn in erster Linie stand, weiss was Sache ist. Es gibt Barrikaden, Steine- und Flaschenwürfe gegen die Polizei. Aber was es vor allem gibt, sind Hunderte von Verletzten, ein Dutzend davon schwer, darunter ein 22-jähriger der ein Auge verlor, andere überfahren von in die Menge rasender Polizeitransporter oder von Gummi- und Foamgeschossen getroffen, weitere drei davon am Auge. Verletzt durch eine unverhältnissmässige Polizeigewalt, die nach zunächst friedlichen Protesten am Montag von den Einsatzkräften ausging. Die DemonstrantInnen fühlen sich von der Berichterstattung vieler JournalistInnen nicht repräsentiert. Vielleicht täte es einigen KollegInnen gut, vom Podest oder Bildschirm zu steigen oder aus Madrid anzureisen und ins Geschehen einzutauchen. Möglicherweise wäre die Berichterstattung dann authentischer und weniger durch Filter geprägt.
Agressionen gegen Journalistinnen gibt es immer häufiger und brutaler vor allem von Seiten der Polizei. Bereits bei der Flughafenblockade am Montag wurden elf JournalistInnen durch Polizeigewalt verletzt. Beleidigungen, Drohungen und Herumschupsen sind seit Tagen Normalität. Donnerstag Nacht traf schliesslich Carlos Márquez von der Tageszeitung El Periodico ein Foam-Geschoss der katalanischen Polizei Mossos am Bein. Weitere JournalistInnen wurden ebenfalls durch Gummi- oder Foamkugeln verletzt. Schliesslich kam es letzte Nacht zur Verhaftung von El Pais Fotoreporter Albert Garcia, der selbst brutal verhaftet und weggezerrt wurde, während er eine Polizeiagression dokumentierte.
Unüberwindbare Widersprüche einer transversalen Bewegung?
Die Zweiseitigkeit der Medaille hat bezüglich des Unabhängigkeitsprozesses eine katalanische und eine spanische Seite. Einerseits die der transversalen Bewegung, die ein Referendum durchsetzen konnte und sich in knapper Mehrheit für die Loslösung von Madrid entschied, andererseits die Zentralregierungen Madrids, die darüber nicht verhandeln wollten.
Eine Bewegung, die bisher auf friedliche Aktionsformen mit festlichem Charakter setzte, sieht sich nun nächtlichen Strassenschlachten und unverhältnissmässiger willkürlicher und gezielter Polizeigewalt gegenüber. Die Mehrheit derer, die sich seit den Urteilen Nacht für Nacht in Barrrikaden gegen Angriffe vorwiegend der Mossos oder wie gestern der Policia Nacional schützen und sich dagegen zur Wehr setzen, sind Jugendliche. Viele haben den Glauben in die Repräsentierung ihrer Ideen und des Mandats des 1. Oktobers durch die Politik, doch vor allem ihre Angst verloren. Mehr noch prägt sie die Repression und Gewalt durch die Polizeikräfte. Somit bekommt die ganze Situation schliesslich eine eigene Dynamik, die Protest, Gegenwehr und vereinzelt Strassenkampfkult vereint. Ein Teil der Unabhängigkeitsbewegung hat eine neue Aktionsform gewählt. Dabei geht es nicht um politische Taktik. In den Augen vieler, die Nacht für Nacht an den Barrikaden stehen, hat die Gewaltfreiheit zu nichts geführt. 13 Jahre Gefängnis wegen der Verteidigung eines Referendums? Elfeinhalb Jahre, weil in einer Parlamentssitzung die Debatte über ein solches zugelassen wurde? Neun Jahre, wegen Besteigens eines geparkten Guardia Civil-Fahrzeugs? Der spanische Staat hat stets repressiv auf eine demokratische und friedliche Initiative und Bewegung geantwortet. Die letzten Festnahmen von CDR-Mitgliedern unter Terrorismus-Vorwurf ohne terrorisitschen Tatbestand und die Haftbedingungen eines CDR-Mitglieds, die die UNO-Menschenrechtskonvention als Folter bezeichnet, wollen viele schlichtweg nicht mehr hinnehmen. Ebensowenig wie das Urteil. Diese vorwiegend jungen Leute haben auf den letzten Diadas vielleicht noch friedlich an der Seite ihrer Familien oder FreundInnen demonstriert. Sie kommen und sind Teil einer Bewegung und stehen nicht auf der anderen Seite der Medaille, wo sie einige Politiker hinplatzieren wollen.
Zäh wie Kaugimmi – eine katalanische Regierung nicht auf der Hóhe des Geschehens
Seit dem Erstarken der Unabhängigkeitsbewegung geht es innerhalb der etablierten katalanischen Parteien um eins. Sich von der Basis nicht überrollen zu lassen und Einheit zu zeigen. Nicht immer einfach wenn Partei- und Wirtschaftsinteressen im Vordergrund stehen und mehr einmalt musste die Basisbewegung bezüglich der Geschlossenheit Druck machen. So transversal die Bewegung, so gegensätzlich sind auch die Parteiinteressen. Gemeinsam haben nach dem Referndum des 1. Oktober vor zwei Jahren jedoch Junts per Catalunya unter ihrem Präsidenten Puigdemont und die republikanische ERC das Mandat des ersten Oktober verspielt. Ob aus Angst vor der eigenen Courage oder wie offiziell erklärt um Tote durch militärische Repression zu vermeiden, bleibt dahingestellt. Nicht verhindert haben sie die Auflösung des Autonomiestatuts und die Übernahme der Institutionen durch die Zentralregierung durch Anwendung des Artikels 155 der spanischen Verfassung. Exil und Gefängnis von PolitikerInnen und AktivistInnen folgten. Nach zwei Jahren politischen PingPongs kommen die katalanischen Parteien nicht wirklich weiter in Richtung katalanische Republik. Dennoch zeigt sich die Basisbewgung noch immer motiviert. Doch es gibt einen Teil daraus, der nun zu anderen Aktionsformen greift. Der jeglichem politischen Kalkül und Taktieren entbehrt.
Die Regierung zeigt sich dieser Bewegung gegenüber hilflos. Wurde bis gestern noch auf brutale Repression gesetzt, in der Hoffnung durch Knüppel und Foamgeschosse die Proteste einzudämmen, war heute ein zaghafter Richtungswechsel erkennbar.
Nach einer Versammlung der drei BürgermeisterInnen aus Lleida, Girona und Tarragona, in Abwesenheit von Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau, also der Städte, in denen es zu den heftigsten Auseinandersetzung der letzten Tage kam, erschienen Vizepräsident Pere Aragonès und Ministerpräsident Quim Torra vor der Presse.
Aragonès zeigte Verständnis für die Frustration der Demonstrierenden und rief die spanische Regierung zur Kontrolle und angemessenem Verhalten ihrer Polizei auf. Zu den Gewaltexzessen der katalanischen Polizei äusserte er sich bei dieser Gelegentheit nicht.
Quim Torra machte kurz darauf die spanische Regierung für die Situation verantortlich und verlangte vom amtierenden Regierungschef Pedro Sánchez unmittelbare Gespräche. Gleichzeitig verurteilte er die Gewalt. indem er erklärte, dass es keine „Independentistas“ seien, die zur Gewalt greifen, weil diese Bewegung pazifistisch sei.
Der Glaube daran, dass Dinge aufhören zu existieren, nur weil man die Augen verschliesst ist kleinkindlich. Ebenso politisch unreif ist es, eine Bewegung zu isolieren, auch wenn man mit deren Aktionsformen nicht einverstanden ist. Die katalanische Regierung unter Quim Torra wälzt wieder einmal etwas ab, wofür sie selbst die Verantwortung trägt. Eine kritische Reflexion der bisherigen Politik wäre ebenso unabdingbar, wie eine Deeskalation bei den Demonstrationen. Denn weder die Androhungen des spanischen Innenministers Granda Marlaska mit harter Hand zu bestrafen, noch das Lamentieren eines fehlenden Dialog halten die DemonstrantInnen davon ab, ihrem Unmut gegen Politiker und Polizei mit den ihr eigenen Aktionsformen kund zu tun.
Menschenrechtsorganisationen wie die katalanische IRIDIA und Amnesty International haben inzwischen die brutale und unverhältnismässige Polizeigewalt verurteilt. In mehreren Städten kommt es im Laufe des heutigen Tages zu Demonstrationen gegen die Polizeieinsätze und für die Freilassung der im Zuge der Proteste Festgenommenen. Auch in Madrid sowie weiteren europäischen Städten wie Berlin kam es zu Solidaritätskundgebungen gegen Repression und für antifaschistische Vernetzung.