Tausende fordern mit Protestwoche in Barcelona Ende von Straffreiheit und Repression
Bei Regen geht in Barcelona gar nichts, bei Kälte noch weniger. Dass sich am 4. Februar trotz dieser Kombination an die 3.000 Menschen versammelten und in einer lautstarken Demonstration vor das Rathaus zogen, musste also einen besonderen Hintergrund haben. Was aufgrund der von Demonstrierenden getragenen Pappäpfel wie ein Protest gegen genmanipuliertes Obst aussehen konnte, war der Protest gegen den größten Justizskandal der Stadtgeschichte, in den Polizei und Politik verstrickt sind.
Unter dem Motto: »Es ist nicht nur ein verfaulter Apfel, es ist der ganze Korb« forderten die Demonstranten die Wiederaufnahme eines Verfahrens, das seinen Ursprung in den frühen Morgenstunden des 4. Februar 2006 hatte.
In jener Nacht hatte das anarchistische Kollektiv Anarkopenya in einem besetzten Haus im Stadtzentrum Barcelonas eine Party mit fast 3.000 Leuten organisiert. Als um 6.20 Uhr morgens die Polizei anrückte, um die Feier zu beenden, kam es zu Auseinandersetzungen. Dabei traf einen Beamten ein Objekt am Kopf, er fiel ins Koma und ist seitdem querschnittsgelähmt. In der ersten Erklärung des damaligen Oberbürgermeisters Joan Clos wurde ein vom Balkon geworfener Blumentopf für die Verletzung verantwortlich gemacht. Dennoch wurden nur Personen verhaftet, die sich auf der Straße befunden hatten, unter ihnen Rodrigo Lanza, Juan Pintos und Álex Cisterna, die auf dem Kommissariat brutal gefoltert wurden und anschließend zur Behandlung in ein Krankenhaus gebracht werden mussten. In diesem Zusammenhang verhaftete die Polizei auch Patricia Heras, die sich nach ihren Aussagen wegen der Folgen eines Fahrradunfalls zur Behandlung in die Notaufnahme begeben hatte. Das einzige Indiz, das zur Verhaftung und Verurteilung von Particia Heras führte, war eine Nachricht auf ihrem Handy und die Aussage der beiden Beamten Víctor Bayona und Bakari Samyang. Die Frau selbst erklärte, niemals auf dem Fest gewesen zu sein.
Nach den Verhaftungen korrigierte Stadtoberhaupt Clos damals seine Version der Vorfälle, um den Weg für eine Verurteilung der Jugendlichen freizumachen. Plötzlich sollte ein Steinwurf zur Verletzung des Beamten geführt haben. Obwohl diese These gleich drei Gerichtsmediziner widerlegt hatten, wurden Pintos, Cisterna und Heras 2008 in einem Verfahren voller Unregelmäßigkeiten zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, Rodrigo Lanza als angeblicher Steinwerfer zu fünf Jahren. Die Politiker deckten die gerichtsmedizinisch widerlegten Falschaussagen der Polizisten, die Staatsanwaltschaft ermittelte nicht gegen die Beamten wegen Folter und lehnte bislang alle Gesuche ab, das Verfahren wieder aufzunehmen. Die beiden Polizisten Bakari Samyang und Víctor Bayona wurden erst im Oktober 2011 wegen schwerer Folter an einem anderen Jugendlichen zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt und zwangspensioniert. Nach ihrer Freilassung werden sie Renten von 1.600 bzw. 1.800 Euro erhalten.
Patricia Heras hielt unterdessen dem Druck nicht mehr stand. Bei einem Freigang 2011 beging sie Selbstmord. Im selben Jahr gründete sich die Plattform gegen die Konstrukte des 4. Februars mit dem Ziel, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu bewirken. In diesem Zusammenhang entstand der in Malaga preisgekrönte Dokumentarfilm »Ciutat morta« (Tote Stadt), der die Verwicklungen von Justiz, Polizei und Politik belegt und schließlich am 17. Januar dieses Jahres im katalanischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Fast alle Parteien des katalanischen Parlaments forderten daraufhin die Wiederaufnahme des Verfahrens, was jedoch wegen angeblich fehlender neuer Beweise abgelehnt wurde. Bei Protesten forderten Tausende Menschen in der vergangenen Woche wiederholt ein Ende der Konstrukte, Straffreiheit und Repression.
veröffentlicht in jw am 9_2_2015