Teresa Forcades ist Nonne im Kloster Sant Benet de Montserrat und Mitbegründerin des basisdemokratischen Procés Constituent. Mela Theurer sprach mit ihr über das Frauenbild in der Kirche, soziale Gerechtigkeit und die politische Situation in Katalonien. Das Interview vom 1. Februar 2015 erschien in verkürzter Form in der Tageszeitung junge welt
Teresa Forcades, als ich Ihre Biografie gelesen habe, stellte ich fest, dass es zwischen uns einige Gemeinsamkeiten gibt. Wir sind im selben Jahr geboren. Mit 30 Jahren haben wir dann sehr unterschiedliche, aber prägende Entscheidungen getroffen. Sie traten damals in das Kloster Sant Benet de Montserrat ein. Wir beide vertreten feministische Positionen und setzen uns für die Freiheit der Menschen und Völker ein. Ich beginne das Interview mit einer persönlichen und eher unoriginellen Frage: Wie kam es, dass Sie mit einem abgeschlossenen Studium der Medizin und einem Stipendium in Harvard in einen Klosterorden eintraten?
Der Grund warum ich ins Kloster eingetreten bin, ist, dass ich eine Berufung spürte. Das ist wohl die klassische Antwort, aber es ist das was ich fühlte. Nicht, dass ich nicht gewusst hätte, was ich mit meinem Leben hätte sonst anfangen sollen. Ich ging in eine bestimmte Richtung, hatte mein Medizinstudium abgeschlossen und ein Stipendium für Theologie bekommen. Ich bezog damals die Möglichkeit eines Doktorats in Ethischer Medizin in Betracht, da ich sah, dass im Bereich der Medizin viele Dinge nicht gut funktionierten. Letztendlich kam ich nach Montserrat um mich hier in Ruhe auf eine Abschlussprüfung in Medizin vorzubereiten. Mein Aufenthalt war für einen Monat vorgeshen, doch dann passierte etwas Unvorhergesehenes, was ich mit dem lateinischen Begriff vocare beschreiben würde, was soviel wie „rufen“ bedeutet. Ich fühlte mich einen Ruf, etwas das in meinem Inneren passierte. Nicht dass jemand zu mir gesprochen oder mir eine Botschaft geschickt hätte. Ich hatte auch keine Vision. Es war ein inneres, sehr intimes Gefühl, das mir sagte, dass hier mein Platz sei. Ich fühlte mich eingeladen hier zu bleiben, hatte aber auch meine Zweifel. Ich glaubte an Gott und wenn du an etwas oder jemanden glaubst, ist das eine Referenz. Als ich spürte, dass Gott mir diesen Vorschlag machte, nahm ich ihn an. Das war letztendlich meine Motivation.
Als Sie ins Kloster gingen, hatten Sie sicherlich Vorstellungen und Erwartungen, wie Ihr Leben und Wirken aussehen würde. Welche Ihrer Ideen konnten Sie dort realisieren, auf welche Hindernisse sind Sie gestoßen und in welchen Bereichen erlebten sie das Klosterleben als befreiend?
Ich bin nicht sofort eingetreten, als ich diese innere Berufung spürte. Mir stand mein Stipendium für Theologie in Harvard bevor und das wollte ich in Anspruch nehmen. Zudem wollte ich abwarten, ob es sich eher um ein spontanes Gefühl, einen Selbstbetrug oder um etwas Anhaltendes handelte. Als ich merkte, dass es wirklich real für mich war, vertraute ich auf mich und trat schließlich ins Kloster ein. Konkrete Erwartungen an das Leben hier hatte ich eigentlich gar nicht und ich wusste auch nicht so genau, worauf ich mich einließ. Meine anfänglichen Erfahrungen bezüglich des Klosterlebens sind sehr vielfältig. Es gab sehr schwierige Momente für mich, aber es war auch faszinierend. Die Horrorerlebnisse zu Beginn wurden immer weniger und die Faszination im Laufe der Zeit immer größer. Inzwischen nehme ich alles gelassener und obwohl es natürlich eine ernste Angelegenheit ist, sehe ich die humorvolle Seite, die das Leben hier mit sich bringt. Nach wie vor gibt es natürlich Situationen, in denen ich keine einfachen Entscheidungen zu treffen habe.
Hatten Sie wirklich so gar keine Vorstellungen vom Leben und auch keine Ziele, die Sie realisieren wollten?
Nein, ich bin einfach so eingetreten. Ich hatte schon die Vorstellung in das Leben einer Gemeinschaft einzutreten und dabei die respektiven Erfahrungen zu machen. Noch nie hatte ich in so einer Schwesternschaft gelebt und ich machte mir keine Vorstellung davon, was es bedeutet, fünf Stunden am Tag zu beten. Das Gemeinschaftsleben stellte ich mir vielleicht einfacher, idealer vor, aber letztendlich erlebte ich es so authentisch wie es ist. Ich kam ins Kloster mit Vorstellungen über soziale Gerechtigkeit und sah mich hier im Alltag dann manchmal in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Gemeinschaft an Grenzen stoßend. Dies löste ich in einem Moment des Gebets, in dem ich mir klar wurde, dass ich gekommen war, um lieben zu lernen und dass die Schwierigkeiten des Zusammenlebens dem nicht entgegenstehen, sondern die eigentliche Herausforderung sind. Wie soll ich mich für soziale Gerechtigkeit außerhalb des Klosters einsetzen können, wenn ich die Konflikte in meinem Lebensalltag nicht lösen kann. Und hier komme ich auf das, was meine theologische These ist. Ich sehe nicht, dass Gottes Vorsehung sagt, komm nur und ich regle alles für dich. Ich glaube nicht an eine paternalistische oder maternalistische Vorsehung. Vielmehr glaube ich ganz fest daran, dass für mich unter allen Bedingungen und in jedem Moment meines Lebens ein freier Akt der Nächstenliebe möglich ist. Darunter fällt für mich die Situation von Jesus am Kreuz, als er seinen Folterern verzieh. Das war ein freier Akt der Nächstenliebe. Und ich denke, dass wir Menschen Freiheit und Nächstenliebe verkörpern sollten.
Soziale Gerechtigkeit innerhalb dessen was die Institution Kirche im spanischen Staat verkörpert -wie kann das gehen?
Meine erste Berührung mit der Kirche und dem Glauben machte ich mit 15 Jahren, ich las die Evangelien, die mich beeindruckten und dabei besonders ein Kapitel von Lukas über die Gefangenen, das mich faszinierte. Hier im Kloster bieten wir etwas an, was man zuerst vielleicht nicht in den Begriff der sozialen Gerechtigkeit einreihen würde. Unsere heutige Gesellschaft ist gekennzeichnet durch Vereinzelung. Neben Kursangeboten über Theologie, Keramik, etc. findet jede Person hier aber auch jemanden, der ihr zuhört. Dies sind Elemente, die der persönlichen Befreiung dienen können. Im politischen Bereich bedeutet dies, die politische Subjektivität eines jeden Einzelnen zu aktivieren. Dabei geht es nicht darum, den perfekten Anführer oder die richtigen Strukturen zu finden. Sicher bedarf es Leitungspersönlichkeiten und auch entsprechender Strukturen. Aber es geht mir vielmehr darum, dass jede Person seine Eigenverantwortung spürt und sich als politisches Subjekt einbringt. Wie wird diese politische Subjektivität aktiviert? Das versuchen wir hier, indem wir offen sind für alle Personen, um gemeinsam an einem persönlichen Reifungsprozess als freie Menschen zu arbeiten. Unser Angebot ist umsonst, du brauchst kein Bargeld und keine Scheckkarte, es erreicht also alle Personen unabhängig ihrer ökonomischen Ressourcen.
Die Kirche war während der Diktatur unter Franco eine der Säulen zur Herrschaftstabilisierung und hat das totalitäre System offen unterstützt. Der Vatikan seinerseits hat vorallem deutschen Nazigrößen zur Flucht in lateinamerikanische Länder verholfen. Aber es gab auch Opposition und Widerstand und Orte an denen sich dieser formieren konnte. Montserrat war einer davon. War dies auch ein Beweggrund, warum Sie in dieses Kloster gegangen sind?
In meinem Falle war die Entscheidung in erster Linie eine persönliche. Beim Prozess der Entscheidungsfindung habe ich mir eher die Frage gestellt: “Würdest du hier bleiben, wenn das Männerkloster von Montserrat nicht die wichtigste Bibliothek Kataloniens hätte? Und die Antwort war Nein. Für mich war die Tatsache, dass ich hier in meiner Nähe dieses Kulturangebot hatte, auf das ich zugreifen konnte, wohin ich mich zurückziehen konnte, maßgeblich. Ich fragte mich, ob meine Berufung authentisch sei, wenn sie von einer Bibliothek abhängt. Die Evidenz der Kultur die Montserrat verkörpert, hat sich auf jedoch sicherlich auf meine Entscheidung ausgewirkt.
Die Beschreibung der Rolle der Kirche während des Franquismus ist richtig, es gab einen großen Enthusiasmus bezüglich des diktatorischen Systems mit all seinen Facetten der Unterdrückung und Repression gegen das Volk. Deswegen wurde ich von zuhause aus auch nicht katholisch erzogen. Aber es ist auch wichtig, die andere Seite hervorzuheben. Nicht die gesamte Kirche teilte diese diesen Enthusiasmus. Es gab individuellen Widerstand, Christen an der Basis, die dagegen waren oder eben das Kloster von Montserrat.
In der Geschichte der katholischen Kirche gibt es eine kontinuierliche Strömung, die für soziale Gerechtigkeit steht und die sich für die Befreiung der Menschen einsetzt und Freiräume schafft. (…)
Es gibt die Aussage: “Die schlimmste Gewalt vollzieht sich in Form einer Krawatte”. Ich bin gegen Gewalt, sei es von rechter oder linker Seite ausgehend. Aber über eine Sache müssen wir uns im Klaren sein. Vollzieht sich Gewalt von unten nach oben, nennt man es Terrorismus. Vollzieht sie sich von oben nach unten ist es häufig in einem Rahmen der Demokratie. Obwohl ich gegen Gewalt bin, müssen die Gewaltverhältnisse benannt und die Gewaltmonopole in Frage gestellt werden. Ich selbst stehe für andere Methoden, aber ich verurteile nicht die Gewalt von unten nach oben. Das Gewaltverhältnis vollzieht sich de facto von oben nach unten.
Sehen Sie mit dem neuen Papst eine Veränderung der Kirche? Bei mehreren Gelegenheiten übte er eine Kapitalismuskritik und die Anerkennung des Märyritums des Befreiungstheologen Oscar Romero vor einigen Wochen deuten eine veränderte Haltung hinsichtlich gesellschaftspolitischer Fragen an.
Ich erinnere mich, als ich in Berlin war an einen Titel in der Süddeutschen Zeitung. „Papst Franziskus: der Kapitalismus tötet“. Im Editorial der Süddeutschen war zu lesen, dass sich der Papst mit seinen Aussagen irrt, woraufhin es massenhaft konträre Leserbriefe gab.
Ein wesentlicher Faktor für mich ist, dass sowohl innerhalb der Kirche wie auch der Gesellschaft der positive Wandel hin zu einer sozialen Gerechtigkeit nicht von oben aus, sondern von der Basis erfolgt. Dies schließt natürlich nicht die Möglichkeit aus, dass sich eine Person, die an der Spitze steht, nicht ebenfalls für soziale Gerechtigkeit einsetzt. Und zaghaft geschieht das im Moment im Vatikan. Zaghaft, weil Phänomenen wie dem Feminismus und seinen respektiven Forderungen, wenig Beachtung geschenkt wird. Immerhin hat Papst Franziskus kürzlich ein Dekret aufgehoben, durch das sein Vorgänger Positionen der Sisters in den USA zensiert hatte. Papst Franziskus hingegen erklärte, dass der Vatikan stolz auf diese Frauen ist. Das ist immerhin ein Anfang. Eine Sache ist, Menschenrechtsforderungen zu stellen oder soziale Ungerechtigkeiten zu kritisieren, die andere auch innerhalb der Kirche demokratische Strukturen dafür zu schaffen. Und auch hier hat Papst Franzikus mit Veränderungen begonnen. Ein äußerst wichtiges Thema ist die Familie und die Sexualität. Die Haltung gegenüber Scheidung, Abtreibung und Homosexualität muss neu definiert werden. Im Moment ist es noch so, dass du ein guter Katholik bist, wenn du dich gegen Homosexualität und Abtreibung stellst. Das ist schrecklich. Und von der Basis aus müssen wir daran arbeiten, dass sich gegen diese Themen der Moral, worunter ich auch andere soziale Inhalte fasse, die Position der Kirche grundlegend ändert.
Das Zitat von Feuerbach “Religion ist das Opium des Volkes”, das in einem konkreten Kontext der Marxschen Theorie weite Verbreitung fand, ist spätestens mit der Entstehung der Befreiungstheologie in Frage gestellt. Die feministische Theologie als kritische Wissensschaft ist mit der Befreiungstheologie verwandt. Sie sind eine ihrer Vertreterinnen. Worum geht es?
Die feministische Theologie ist als kritische Wissenschaft zu begreifen die sich aus einem Widerspruch entwickelt. Dieser liegt in der Erfahrung, ein Gottesbild der Botschaftsübermittlung zu haben und du als gleichwertige und respektierte Empfängerin, als Gesprächspartnerin sozusagen, fungieren solltest. Gleichzeitig existiert jedoch eine hierarchische Institution, die dich darin reglementiert und dir aufgrund deines Geschlechts Dinge verbietet. Dies bedeutet, dass du innerhalb deiner Kirche eine Diskriminierung erfährst. Einer feministischen Theologie liegt also diese Erfahrung der Unterdrückung zugrunde. Drei ihrer Hauptmerkmale sind: Erstens die Erfahrung eines Widerspruchs. Zweitens, dass du dich in diesen Widerspruch ernst nimmst und die Verhältnisse nicht akzeptierst. Drittens, dass du versuchst sie zu ändern. Das bedeutet einen Kampf gegen die Institution zu führen, die die Gegenseite verkörpert. Einen Kampf der dir wichtige Erfahrungen wie Solidarität und Schwesternschaft schenkt. Kommen wir nun zum Inhalt der feministischen Theologie. Sie wendet sich gegen die Behauptung, die Frau müsse sich dem Mann unterordnen, weil Gott dies so wolle. Hier beginnt die Auseinandersetzung mit den Texten, das heißt diese zu studieren und zu interpretieren. Dabei geht es darum, eigene Verantwortung zu übernehmen und hierarchische Strukturen, die die Frau dem Mann unterordnen und ihrer Rechte berauben, zu entlarven und wissenschaftlich mit Quellen zu belegen. Die Bibeltexte dürfen nicht wortwörtlich ausgelegt werden. Die Abschaffung der patriarchalen Strukturen innerhalb der Kirche ist eine der dringendsten Angelegenheiten und geht einher mit dem Aufhebung des Klerikalismus. Das bedeutet jedoch nicht, dass alles anders würde, wenn nun Frauen z.B. Priesterinnen werden könnten oder in sogenannte höhere Positionen kämen. Wir haben in Politik und Wirtschaft, mit Margret Thatcher ein prägnantes Beispiel dafür, dass die alleinige Tatsache, dass eine Frau an der Macht ist, keine Verbesserung darstellt.
Wichtig ist auch, gegen die herrschende Homophobie innerhalb der Kirche vorzugehen. Die Normative des Hetero-Daseins hat keine Berechtigung. Homosexualität und Transsexualität müssen als etwas Normales betrachtet werden. Deshalb spreche ich oft anstatt von feministischer Theologie von der Queer-Theologie. Das bedeutet eine Kritik an der Etikettierung der Personen, nicht nur bezogen auf den Bereich Sexualität. Dies sollte auch auf die Bereiche Ethnie und Nation ausgeweitet werden. Diese Etikettierung, die wir uns manchmal selbst auferlegen, verhindert die Entfaltung der persönlichen Freiheit. Innerhalb der Kirche werden die Inhalte dieser kritischen Theologie häufig als Gender-Ideologie negativ bewertet und abgelehnt. Es heißt, dies wäre gegen die Natur dessen, was Gott geschaffen hat und was sich unter biologischer Begründung in einer Hetero-Kultur manifestiert. In diesen Bereich kommt zwar auch etwas Bewegung, aber es bleibt noch sehr viel zu tun.
Sie haben in der Vergangenheit immer wieder kritisch ins gesellschaftspolitische Leben interveniert. Wie waren die Reaktionen darauf?
Meine Erklärungen für das Recht auf Abtreibung haben mir auf kircheninterner Ebene sehr viel Kritik eingebracht, was für mich zu Beginn nicht einfach war. Auf sozialer Ebene habe ich durch meine Kritik an den Pharmakonzernen bezüglich der Impfkampagnen gegen die Grippe A und das Papiloma-Virus viel Druck erfahren. Beispielsweise wurde ich zum Ärzte-Kongress über Präventiv-Medizin eingeladen woraufhin zwei Pharmakonzern-Sponsoren ihre Finzanzierung zurückzogen. Diese Konzerne haben alle ihre Mechanismen in Bewegung gesetzt, um Zensur auszuüben. Ein anderer Kongress der Organisation der Krankenschwestern im Spanischen Staat wurde aufgrund massiven Drucks sogar abgesagt.
Über Twitter und facebook haben Sie Syriza zu ihrem Wahlsieg gratuliert und auch deren Koalition mit der rechtspopulistischen ANEL verteidigt. Haben Sie keine Schwierigkeiten damit, dass ANEL eine reaktionäre Flüchtlings- und Sozialpolitik vertritt?
Syriza haben nur drei Sitze zur absoluten Mehrheit gefehlt, deshalb mussten sie ein Bündnis eingehen. Ich sehe diesen Pakt mit ANEL als eine pragmatische Entscheidung. Auf ökonomischer Ebene gibt es einen Gleichklang und ich könnte es natürlich nicht akzeptieren, wenn Syriza in sozialen Fragen Abstriche machen oder plötzlich die Homosexualität verurteilen würde. Syriza befindet sich in einer Position der Stärke und diese Allianz wird meiner Auffassung nach nicht den Diskurs von Syriza ändern.
Zusammen mit dem Ökonomen Arcadi Oliveras haben Sie den Procés Constituent gegründet. Wofür steht diese Bewegung?
Procés Constituent bedeutet aufbauender Prozess und steht für einen historischen Moment in dem über die Zukunft Kataloniens entschieden werden soll. Zunächst einmal müssen wir unser Recht auf Entscheidungsfreiheit bezüglich einer Loslösung Kataloniens vom spanischen Staat verteidigen. Für viele Menschen ist jedoch die Perspektive einer bloßen Unabhängigkeit nicht genug, sie muss mit einem Wandel hin zu sozialer Gerechtigkeit verknüpft sein.
Bezüglich der Unabhängigkeit wäre es natürlich wünschenswert, wenn der spanische Staat eine demokratische Entscheidung respektieren würde, auch für den Fall einer Mehrheit für die Unabhängigkeit. Da er dies mit Sicherheit nicht tut, nehmen wir unser Recht der Selbstbestimmung in Anspruch und stehen für eine einseitige Unabhängigkeitserklärung. Warum wir uns nicht einer Partei wie der CUP (Kandidatur für die Volkseinheit) angeschlossen haben, die ebenfalls für sozialen Wandel steht, hängt damit zusammen, dass wir innerhalb der CUP mit gleichen oder ähnlichen Positionen nicht die Leute erreichen würden, die wir jetzt mit Procés Constituent erreichen. Da wir aber sehr ähnliche Positionen haben, gewinnen wir durch Allianz Stärke, die wir ohne den Procés Constituent nicht hätten.
Für die Kommunalwahlen im Mai hat der Procés Constituent ein linkes Bündnis mit podemos, guanyem und den Ökosozialisten ICV-EuiA geschlossen, in das sich die CUP mit ihrer neuen Plattform aus antikapitalistischen Gruppen nicht einreihen will. Für die vorgezogenen plebiszitären Neuwahlen im September haben Sie angekündigt, dieses Bündnis in jedem Falle mit der CUP zu erweitern. Podemos Generalsekretärs Pablo Iglesias, hat sich inzwischen als spanischer Patriot geoutet, der weder Katalonien noch das Baskenland außerhalb des spanischen Territoriums sehen will. Ist in diesem Kontext eine solche Allianz überhaupt möglich?
Ich sehe das in der Tat als sehr schwierig, da es eine große Vielfalt an unterschiedlichen Positionen gibt Vom Procés Constituent aus schlagen wir vor, dass all diejenigen, die für einen Wandel für soziale Gerechtigkeit in diesem Land stehen und sich nicht explizit gegen die Unabhängigkeit Kataloniens aussprechen, kooperieren. Podemos hat sich für das Recht auf Entscheidungsfreiheit in Katalonien ausgesprochen und dafür dass die soziale Bewegung in Katalonien weiter voranschreitet. In diesem Sinne müssten sie dann auch das entsprechende Ergebnis akzeptieren. Unser Ziel ist natürlich, eine starke linke Einheit, die für den sozialen Wandel in einem unabhängigen Katalonien steht und dazu gehört ohne Frage die CUP. Welche Allianz wir für die Wahlen im September letztendlich eingehen, ob diese Einheit überhaupt möglich sein wird, das entscheidet unsere Vollversammlung.
Wie stellen Sie sich ein unabhängiges Katalonien vor?
Das ist die Frage, die mir am meisten gefällt. Ich habe nicht die Vorstellung von einem idealen System. Aber es gibt beispielsweise eine Studie die besagt, dass Katalonien ohne Probleme als eigenes Land existieren könnte. Das ist erst einmal die Voraussetzung dafür, weiterzudenken. Ich stelle mir ein Katalonien vor, das auf nachhaltige Energien setzt, das ein gut funktionierendes öffentliches Gesundheits- und Erziehungssystem garantiert und dass es für alle Menschen die in Katalonien leben die gleichen Freiheiten gibt. Das ist meine Priorität. Ich stelle mir Katalonien als solidarisches Land vor, offen für Immigrantinnen und Flüchtlinge mit einem sozialen Netz für ökonomisch Benachteiligte. Ich bin dafür, dass alle die vollen Rechte und Pflichten haben. Die aktuelle Situation, in der Migranten ohne Papiere, nur aufgrund dieser Tatsache kriminalisiert, ins Gefängnis gesteckt und abgeschoben werden, lehne ich rundweg ab.
Eine Zusammenfassung des Interviews ist zu finden in: