Neun katalanische PolitikerInnen und Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung wurden heute von dem Obersten Gerichtshof in Madrid zu Haftstrafen bis zu 13 Jahren verurteilt.
Zusammengerechnet sind es 99,5 Jahre, zu denen katalanische PolitikerInnen und zwei Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung verurteilt wurden.. Wer sich von der Höhe der Strafe überrascht zeigte, war entweder hoffnungslos naiv oder wollte den Tatsachen bisher nicht ins Auge sehen. Denn bereits vor dem Prozess stand fest: Es geht knallhart um Politik, die Trennungslinie zwischen Justiz und Exekutive ist längst zu einer Einheit für die Einheit Spaniens verschmolzen. Und deshalb sollte mit den katalanischen Unabhängigkeitsbefürwortern abgerechnet, ein Exempel statuiert und der Weg des
politischen Dialog ein für allemal zubetoniert werden. Für die Verurteilten ist der Betonbunker längst keine Methapher mehr. Jordi Cuixart, Präsident der Kulturorganisation Òmnium Cultural sitzt wie der ehemalige Vorsitzende der katalanischen Nationalversammlung Jordi Sànchez seit zwei Jahren im Gefängnis. In einem Prozess in dem alles Kalkül , selbst die Urteilsverkündung nicht zufällig war.
Just in der Zeitspanne nach dem 12. Oktober, an dem EinheitsspanierInnen dem Völkermord an den indigenen Völkern Amerikas huldigten und ihre „Rasse“ über den Rest der Welt stellten, an dem teure Militärparaden wiederholt zum Gespött in den sozialen Netzwerken wurden, weil die spanische Flagge einfach nicht mehr wollte (letztes Jahr falsch gehisst, dieses Jahr blieb der Falschirmspringer am Laternenmast hängen) und bevor das Höchstmass der Präventivhaft von zwei Jahren für Cuixart und Sànchez ablief wurde das Urteil bekanntgegeben. Welches dann auch nicht wirklich überraschte und folgendermassen aussieht:
13 Jahre wegen Aufruhr und Veruntreuung öffentlicher Gelder für Oriol Junqueras, Reupublikianische Linke (ERC), damals Vizeprädident der rechtsmässig gewählten katalanischen Regierung.
12 Jahre für Dolors Bassa, damals im Amt als Ministerin für Arbeit, Soziales und Familie wegen Aufruhr und Veruntreuung von öffentlichen Geldern.
12 Jahre für den damaligen Minister für auswärtige Angelegenheiten und ehemaligen Europaabgeordneten der Grünen in Brüssel, Raül Roviera wegen Aufruhr und Veruntreuung von Geldern.
Ebenfalls 12 Jahre für den einstigen Minister des Präsidialamts Jordi Turull.
11 Jahre, fünf Monate für Carme Forcadell. Ehemalige Vorsitzende der ANC und danach Präsidentin des katalanischen Parlaments wegen Aufruhr, um präzise zu sein, weil sie eine Debatte über das Referendum für die Unabähngigkit im katalanischen Parlament erlaubt hatte.
Die gleichen Strafen erhielten Jordi Rull (Gebietspolitik und Nachhaltikkeit) und Joaquim Forn (Innenminister).
Neun Jahre gab es letztendlich für Jordi Cuixart und Jordi Sànche, Aktivisten der katalanischen Basis- und Kulturbewegung wegen Aufruhr. In Videodokumenten konnte deren Verteidigung belegen, dass sie eine Demonstration aufgelöst und immer wieder zur Gewaltfreiheit aufgerufen hatten. Dazu sind sie auf Fahrzeuge der Guardia Civil gestiegen, auf denen Dutzende von FotojournalistInnen vor ihnen waren,. Es gab dazu eine Solidaritätskampagne : „Auch ich war auf den CG-Fahrzuegen in Ausübung meines Berufes““, aber letztendlich interessierte das die Justiz nicht wirklich, es ging vor allem darum, die beiden charismatischen Figuren der Basisbewgung zu kriminalisieren.
Meritxell Borràs (ehemals Ministerin für Regierungspflege, öffentliche Verwaltung und Wohnungspflege), Carles Mundó, ehemaliger Jusitzminister und Santi Vila (Minister für Wirtschaft und Wissenschaft) bekamen Geldstrafen von 60.000 Euro, sowie das Verbot ausgesprochen öffentliche Ämter in den nächsten Jahren einzunehmen.
Möglicherweise langweilt eine so detaillierte Auführung. Um die gesamte Tragweite des Urteils aufzuzeigen, ist sie jedoch notwendig. Denn sie verdeutlicht, dass fast eine gesamte gewählte Regierung für schuldig gesprochen bzw. kriminalisiert wurde, aufgrund der Tatsache, ein Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens zugelassen zu haben. Einmalig in der demokratischen Geschichte Europas. Gegen den damaligen Präsidenten Carles Puigdemont wurde noch am heutigen Tag ein neuer Haftbefehlt diktiert.
Die europäische Rechtsprechung hatte dem damaligen Auslieferungsantrag gegen den Prädidenten Kataloniens Puigdemont und weiteren ins Exil geflüchteten katalanischen PolitikerInnen nicht stattgegeben, da der Anklagepunkt der Rebellion den Bestandteil vorligender Gewalt erfüllen muss, was im Falle der Proteste und Aktionen in Katalonien nicht der Fall war. Die JuristInnen des spanischen Staates waren inzwischen jedoch nicht untätig. Da die europäischen Gerichte bisher in allen Auslieferungsbegehren keinen Gewaltaspekt feststellen konnten, liess sich der „Rechtsdienst des Staates“ etwas einfallen, worauf sich heute deren Anklägerin Rosa Seoane besonders stolz zeigte: „Wir konnten mit dem Anklagepunkt der Aufruhr das Urteil deutlich erhöhen“. Seone verkündete. in einer Presserunde: Das Urteil wäre sonst weitaus geringer ausgefallen, hätte letztendlich auf Freispruch oder lediglich auf Veruntreuuung öffenlicher Gelder gelautet, ohne ihre Eingabe des Aufruhrs. Die Urteile liegen dennoch weit hinter den Forderungen der Staatsanwaltschaft und denen der rechtsextremen VOX, die als Nebenklägerin zugelassen war, zurück.
Die Antwort seitens der katalanischen Bevökerung auf die Urteile war kontundent und fand breiten Wiederhall in allen Bereichen der Gesellschaft. Spontane Arbeitsniederlegungen, studentische Proteste, Blockaden an Hauptinfahrtsstrassen, Autobahnen und am Flughafen Barcelonas waren die erste Reaktion auf die Urteile. Langsame Märsche, Autobahnblockaden sowie zentrale Kundgebungen fanden breite Unterstútzung. ANC, Ômnium Cultural riefen gemeinsam mit studentischen Organisationen, Gewerkschaften und Basisbewegungen zum gewaltfreien Protest und Widerstand auf. Die Gewerkschaft intersinical hat am kommenden Freitag zum Generalstreik aufgerufen.
Weniger gewaltfrei ging einmal mehr die Polizei vor. Mit Gummiknüppeln und Foam-Geschossen wurden am Flughafen demonstrierende BlockiererInnen attackiert. Die spanische Nationalpolizei „Policia Nacional“ benutzte einmal mehr die in Katalonien verbotenen Gummigeschosse. Ein Demonstrant wurde durch Foam oder ein Gummigeschoss schwer am Auge verletzt.
Die katalanische Regierung lehnte das Urteil rundum ab und verkündete, weiter hin zu einer katalanischen Republik zu arbeiten. Die noch amtierende sozialdemokratische Regierung hielt an ihrer bisherigen Haltung fest, begrüsste das Urteil und schloss eine Begnadigung aus.
Innerhalb Spaniens hatte der Konflikt um Kataloniens Unabhängigkeit ebenfalls Auswirkungen: Pedros Sánchez‘ Versuch einer „linken“ Koalition scheiterte letztendlich unter anderem an einer Kontroverse mit Podemos. Pablo Iglesias zeigte sich nicht bereit eine neue Unterstellung Kataloniens an die Zentralmacht Spaniens unter dem Paragraphen 155 zu akzeptieren. Pedro Sánchez muss sich somit am 10. November Neuwahlen stellen. Die katalanischen Politiker im Gefängnis dürfen dazu laut Urteilsspruch nicht mehr kandidieren.
Der spanische Staat hat sich mit diesem Urteil an den rechten Rand Europas manövriert. Denn der heutige Urteilsspruch ist nicht nur eine gescheiterte Machtdemonstration eines nichtexistierenden Nationalapparats. Es verkörpert ein System das sich gegen emanzipatorische und basisdemokratische Prozesse stellt. Nicht bereit, einen politischen Konflikt mit Dialog und Verständigung zu lösen. Der spanische Staat – die verpasste Chance einer Demokratie, nicht nur auf die Unabhängigkeitsfrage beschränkt, denn hier geht es um demokratische Prozesse an sich.