Inzwischen geht es beim Referendum in Katalonien nicht nur um Unabhängigkeit, sondern auch um die Demokratie allgemein.
Ein Gespräch mit Gabriela Serra – Abgeordnete der antikapitalistischen Kandidatur für Volkseinheit CUP im katalanischen Parlament
Für Sonntag ist das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien angesetzt. Was wird am 1. Oktober passieren?
Die politische Landschaft wird sich defintiv verändern; darüber gibt es keinen Zweifel. Jeder wird danach mit den Konsequenzen seines Handelns leben müssen. Was sagen die Führer der Partido Socialista Obrero Español, PSOE, ihrer Basis, wenn die Guardia Civil vor Wahllokalen auf die Bevölkerung einschlägt? Am 1. Oktober geht es längst nicht mehr nur um die Unabhängigkeit. Es geht um Demokratie. Die Frage ist, wie demokratisch ist die spanische Linke? Es geht darum, ob diejenigen, die nicht für die Unabhängigkeit sind, demokratische Rechte wie das auf Durchführung eines Referendums verteidigen.
Was würde sich mit der Unabhängigkeit ändern?
Eine Republik ist nicht dasselbe wie eine Monarchie. Eine Verfassung aus dem Jahr 1978, geschaffen von der herrschenden Klasse, ist nicht dasselbe wie ein verfassungskonstituierender Prozess. Das aktuelle katalanische Parlament hat mehr als 35 Gesetze verabschiedet, die vom spanischen Verfassungsgericht außer Kraft gesetzt wurden, zum Beispiel zum Recht auf Wohnraum oder das zur Erhebung einer Vermögenssteuer.
Und die katalanische Oligarchie?
Klar gibt es die. Deshalb hat unser Parlament auch die Korruption angeklagt. Wir hatten einen Präsidenten und Minister, die vor Gericht gestellt wurden. Im Parlament wurde eine Antikorruptionskommission gegründet – funktionierend, im Gegensatz zu den Kommissionen in Spanien.
Falls Katalonien unabhängig würde, gäbe es dann weniger Instanzen für den Bürger dort, seine Rechte zu reklamieren?
Nein. Das Konzept des Großen ist per se nicht besser. Ich sehe die Chance, dass im kleinen und Überschaubaren mehr Möglichkeiten bestehen, demokratische Rechte wahrzunehmen. In diesem Kontext verstehe ich mich als Antikapitalistin im Sinne von Rosa Luxemburg. Ich bin für ein demokratischen Rätesystem. Dem Gegensatz zu dem was der Stalinismus verkörpert. Nehmen wir zum Beispiel die große Europäische Union. Wozu dient diese Institution? Dazu, uns noch ärmer zu machen? Uns unserer Freiheit zu berauben? Wir hatten davon überhaupt keinen Nutzen. Die EU verbesserte nur die Bedingungen des Finanzkapitals und der Oligarchie.
Ein großer Teil der Linken hat sich gegen das Referendumsgesetz ausgesprochen, das innerhalb von zwei Tagen durch das katalanische Parlament ging.
Das ist nicht wahr. Am 9. November 2016 wurde die erste Deklaration verabschiedet, mit der klaren Aussage, dass wir den Bruch mit dem spanischen Staat und die Unabhängigkeit wollen. Das Problem ist: Es glaubte niemand daran, dass wir dies tatsächlich durchziehen könnten. Weder der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy noch die PSOE noch die Bewegung »Catalunya sí es pot« hielten dies für möglich. Alle dachten, dass wir zu unterschiedlich und zerstritten seien, auch die linke Podemos. Deren Spitzenkandidat für die Europawahl 2014, Pablo Iglesias, kam nach Barcelona und sagte den Leuten in Nou Barris, sie sollen ihre spanischen Wurzeln nicht vergessen.
Bereichert sich der spanische Staat an Katalonien?
Ökonomisch betrachtet auf jeden Fall. Katalonien zahlt weitaus mehr an den Staat, als es zurückbekommt. Die Europäische Union ist von daher eher an einem Beitritt Kataloniens als an Spaniens Verbleib interessiert.
Ist es nicht unsolidarisch, Spanien aus ökonomischen Gründen verlassen zu wollen?
Niemand kann uns als unsolidarisch bezeichnen. Das haben wir auch immer wieder gezeigt. Es ist nicht unsolidarisch, wenn man sein eigenes Geld verwaltet. Wir wollen selbst entscheiden, womit wir solidarisch sind. Wir wollen nicht die Oligarchie unterstützen. Wenn wir beispielsweise die Landarbeiter in Kastillien unterstützen wollen, dann machen wir das von Staat zu Staat. Wir haben viel an die Flüchtlinge in Griechenland geschickt.
Unter welchen Voraussetzungen bereiten Sie sich auf die Abstimmung vor?
In diesem Moment herrscht hier in Katalonien der Ausnahmezustand. Das Finanzsystem ist unter Kontrolle des Zentralstaates. Es gibt eine militärische Invasion, weil die Guardia Civil eine paramilitärische Einheit ist. Unser Parlament und unsere Regierung wurden bedroht. Es ist ein versteckter Staatsstreich.
Interview Carmela Negrete und Mela Theurer
veröffentlicht in junge welt am 30_9_2017