„Keine Aggression bleibt ohne Antwort“ – Knapp 500 Frauen erobern sich in einer gemeinsamen Demonstration gegen sexualisierte Gewalt die Straße zurück
Endlos zieht sich der Demonstrationszug durch die schmalen Straßen des Barcelonaer Stadtteils Poble Sec. Während an den Tischen vor den Bars und Kneipen die TouristInnen Tapas und Sangria fröhnen, marschiert eine bunte und kämpferische Demonstration an ihnen vorüber, an der sich überwiegend Frauen aus dem Stadtteil beteiligen. „Ich bin frei und mutig“, „Die Straßen gehören den Frauen“ und „Keinen Schritt zurück, direkte Aktion ist die einzige Antwort auf das Patriarchat“ schallt es durch das Viertel. Feministische Gruppen hatten spontan zu einer Demonstration aufgerufen, nachdem am gestrigen Mittwoch bekannt wurde, dass in diesem Stadtteil zwei Frauen Opfer von sexualisierter Aggression wurden. Am vergangenen Sonntag Abend und am Mittwoch Morgen wurden die beiden Frauen sexuell angegriffen. Derzeit ermittelt die katalanische Polizei in getrennten Verfahren. Bereits einen Monat zuvor war im selben Stadtviertel eine 71-jährige Frau von ihrem Mann ermordert worden.
Laut Polizeiangaben stiegen zwischen Januar und August diesen Jahres die Anzeigen wegen sexualisierter Gewalt um 30%. Derzeit haben allein in Barcelona 446 Frauen
angezeigt, dass sie sexuellen Angriffen zum Opfer fielen. Laut Angaben des Inneministeriums werden in Spanien jährlich ca. 1.161 Vergewaltigungen angezeigt. Das bedeutet, dass alle acht Stunden eine Frau oder ein Mädchen vergewaltigt wird. Die Dunkelziffer liegt jedoch weitaus höher. Für 39 Frauen endete in diesem Jahr die patriarchale Gewalt tödlich. Die meisten wurden von ihren (Ex)- Männern beziehungsweise Lebensgefährten ermordet.
Statistiken machen jedoch nur die erfassten Daten sichtbar. Die hohe Dunkelziffer ist nicht nur dem schmerzhaften Prozess geschuldet, der einer Anzeige in der Regel folgt, sondern auch der Tatsache dass viele Frauen die erlebte Gewalt nicht als Delikt empfinden oder sich dafür selbst die Schuld geben.
Der Justizapparat als tragende Instanz des patriarchalen Systems unterwirft die Opfer von sexualisierter Aggression Verfahren, in denen sie sich selbst rechtfertigen und verteidigen müssen. Selbst in so eindeutigen Fällen, wo die Täter die mehrfache Massenvergewaltigung einer 18-jährigen Madriderin bei den San-Fermin-Festlichkeiten im Juli 2017 in Pamplona gefilmt hatten, wurde das Opfer vom Gericht in eine Verteidigungsrolle gedrängt. Die patriarchale Kumpanei zwischen Justiz und Tätern hatte dabei perfide Züge angenommen. Der vorsitzende Richter Francisco Cabo Sáenz hatte einen Bericht der privaten Detektei Cassol akzeptiert, die die junge Frau und ihre Lebensgewohnheiten nach der Vergewaltigung im Auftrag der Familie eines Angeklagten ausspionierte. In den sozialen Netzwerken veröffentlichte Fotos dienten als Beweise, um der Frau ein „atypisches Verhalten nach einer Vergewaltigung “ vorzuwerfen und die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage anzuzweifeln. Letztendlich wurden die fünf Angeklagten, die sich selbst als la Manada – das Rudel bezeichneten, nicht der Vergewaltigung sondern lediglich sexueller Aggression für schuldig gesprochen und zu neun Jahren auf Bewährung verurteilt. Alle befinden sich seitdem auf freiem Fuß. Dieser Fall brachte spanienweit Hundertausende gegen patriarchale Gewalt auf die Straße.
Auch die heute spontan angesetzte Demonstration überraschte in ihrer Größe selbst die Veranstalterinnen. Auf der Abschlusskundgebung forderten diese Frauensolidarität und sichere Stadtteile, in denen sich Mädchen und Frauen ohne Angst bewegen können.