Die verlorene Republik

Foto: Mela Theurer

Vor einem Jahr proklamierte Kataloniens Parlament die Unabhängigkeit von Spanien

Am 27. Oktober vorigen Jahres verabschiedeten die Abgeordneten des katalanischen Regionalparlaments eine Erklärung, in der sie einseitig die Unabhängigkeit ihres Landes von Spanien proklamierten. Sie trugen damit dem Ergebnis des Referendums vom 1. Oktober Rechnung, bei dem sich mehr als 90 Prozent der Teilnehmer für die Gründung einer eigenständigen Republik ausgesprochen hatten. Doch die Ausrufung des eigenen Staates durch Regierungschef Carles Puigdemont blieb aus, auf den öffentlichen Gebäuden wurden die Fahnen der spanischen Monarchie nicht eingeholt. Der Freudentaumel verwandelte sich innerhalb kürzester Zeit in einen Alptraum für die Basisbewegung.

Während in Katalonien noch gefeiert wurde, beschloss in Madrid der spanische Senat die Aussetzung der katalanischen Autonomie nach dem Verfassungsartikel 155. Das Regionalparlament wurde aufgelöst, die rechtskonservative spanische Regierung

übernahm die Verwaltung Kataloniens. Gegen die Mandatsträger wurden juristische Verfahren in Gang gesetzt, durch die ihnen jahrzehntelange Haft droht.

Sieben Politiker entzogen sich der Repression durch Flucht in das europäische Ausland. Andere, die Vorladungen zur Anhörung in Madrid nachkamen, wurden festgenommen. Insgesamt neun Politikerinnen und Politiker sitzen seither im Gefängnis, unter ihnen der Vorsitzende der Kulturorganisation Òmnium Cultural, Jordi Cuixart, und der Präsident der überparteilichen Bewegung Katalanische Volksversammlung (ANC), Jordi Sànchez. Fast allen Beschuldigten wird von der spanischen Justiz Rebellion vorgeworfen. Dieser Tatbestand setzt nach den Gesetzen des Königreichs jedoch die Anwendung von Gewalt voraus – die Unabhängigkeitsbewegung hatte jedoch immer strikt auf Gewaltfreiheit gesetzt. Vor allem aus diesem Grund lehnten europäische Gerichte reihenweise Auslieferungsanträge aus Madrid gegen die Exilierten ab.

Insgesamt wird bisher offiziell gegen 25 katalanische Parlamentspolitiker ermittelt. Auch Bürgermeister und Aktivisten der Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR) werden strafrechtlich verfolgt. Ihnen werden Widerstand gegen die Staatsgewalt und ziviler Ungehorsam unter anderem bei den Generalstreiks im Oktober und November vergangenen Jahres vorgeworfen.

Im ganzen Land fordern Hunderttausende immer wieder die Freilassung der Gefangenen und die Rückkehr der Exilierten. Allein am 11. September, dem katalanischen Nationalfeiertag, gingen rund eine Million Menschen in Barcelona auf die Straße, um für Freiheit und die Republik zu demonstrieren. Am 1. Oktober, dem Jahrestag des Referendums, richtete sich der Unmut erstmals gegen die Regionalpolizei Mossos d’Esquadra, die zuvor gewaltsam ein Protestcamp auf dem Platz vor dem Rathaus geräumt hatten und einen Aufmarsch rechter spanischer Polizeigewerkschaften schützten.

Im Unabhängigkeitslager vertiefen sich allerdings die Gräben zwischen den verschiedenen Parteien. Zwar hatten sie bei den von Madrid erzwungenen Neuwahlen im vergangenen Dezember eine knappe Mehrheit gewonnen, sie haben sich aber darüber zerstritten, wie mit den inhaftierten und exilierten Abgeordneten umgegangen werden soll. Der Konflikt ist grundsätzlich. Während das von Puigdemonts Demokratischer Partei geführte Bündnis »Gemeinsam für Katalonien« (JxCat) mittelfristig auf Selbstbestimmung statt Unterordnung unter die spanischen Gesetze setzt, hofft die Republikanische Linke (ERC) darauf, unter der neuen spanischen Regierung des Sozialdemokraten Pedro Sánchez doch noch durch Verhandlungen dem Ziel näherkommen zu können. Sánchez hatte nach seiner Wahl mehr Autonomie angeboten, eine Abspaltung von Regionen jedoch kategorisch ausgeschlossen. Die antikapitalistische CUP wirft den beiden Partnern deshalb vor, sich mit der Autonomie abgefunden und damit die Unabhängigkeitsbewegung verraten zu haben.

veröffentlicht in jw am 27.10.2018