Mehrheit gegen Madrid

Wahlen in Katalonien: Unabhängigkeitsbewegung gewinnt die meisten Sitze – aber weniger als 50 Prozent der Stimmen
Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung hat bei den Parlamentswahlen am Sonntag eine klare absolute Mehrheit der Sitze gewinnen können. Die Bedeutung der Abstimmung, die von Ministerpräsident Artur Mas zu einem Plebiszit über die Abspaltung von Spanien erklärt worden war, schlug sich auch in der Wahlbeteiligung nieder, die mit 77,48 Prozent die bislang höchste bei einer Regionalwahl in Katalonien war. Die Bündnisliste »Junts pel Sí« (Gemeinsam für das Ja), an der sich die rechtsliberale Regierungspartei Demokratische Konvergenz (CDC), die Republikanische Linke (ERC) sowie parteilose Persönlichkeiten beteiligt hatten, kam auf 62 der 135 Sitze. Sie braucht deshalb die Unterstützung der antikapitalistischen Kandidatur der Volkseinheit (CUP), die ihr Ergebnis von 2012 mehr als verdreifachen konnte und künftig zehn Abgeordnete stellt.

Trotzdem kam bei den Wahlpartys keine wirkliche Feststimmung auf. Das lag an der Verteilung der Stimmen. Lediglich 47,8 Prozent der Wähler stimmten direkt für die Unabhängigkeit. Trotzdem kündigte die CUP bereits am Wahlabend an, ihr Programm umsetzen zu wollen. Anna Gabriel, die auf dem zweiten Listenplatz kandidiert hatte, unterstrich am Montag auf einer Pressekonferenz in Barcelona: »Wir arbeiten nicht nur für den Bruch mit Madrid, sondern auch für den mit dem ökonomischen System und patriarchalen Strukturen.« Man werde sowohl »Junts pel Sí« als auch »Catalunya Sí que es Pot« (Katalonien – Yes We Can) zu Gesprächen einladen. Das letztgenannte Bündnis aus Podemos und den traditionellen katalanischen Linksparteien ICV und EUiA hat am Sonntag enttäuschend abgeschnitten. Die Stimmenzahl entsprach in etwa dem, was die Allianz ICV-EUiA vor drei Jahren erreicht hatte – durch die gestiegene Wahlbeteiligung ergab das jedoch einen Verlust von zwei Mandaten. Die Liste hatte sich im Wahlkampf für das Recht der Katalanen ausgesprochen, über ihre Zukunft in einem Referendum entscheiden zu dürfen – zur Unabhängigkeit selbst hatte man sich jedoch nicht positioniert.

Dagegen kann die CUP mit ihrem Ergebnis zufrieden sein. Nachdem sie 2012 zum ersten Mal in das Regionalparlament eingezogen war und dort drei Abgeordnete stellte, konnte sie nun mit 8,25 Prozent ihre Präsenz auf zehn Vertreter steigern. Das gibt Selbstbewusstsein für die bevorstehenden Verhandlungen. Der Generalkoordinator der CDC, Josep Rull, kündigte am Montag jedoch bereits an, Artur Mas wieder zum Ministerpräsidenten wählen zu wollen. Das lehnt die CUP ab, weil dieser für die Kürzungspolitik der vergangenen Jahre stehe. Spitzenkandidat Antonio Baños bekräftigte am Montag die Forderung an die CDC, einen Kandidaten zu präsentieren, der weder korrupt noch für Kürzungen verantwortlich ist – »wenn sie so jemanden hat«.

Baños räumte auch ein, dass man das »Plebiszit verloren« habe. Die CUP hatte gefordert, bei einer Mehrheit der Stimmen am Tag nach der Wahl einseitig die Unabhängigkeit zu proklamieren. Das komme nun nicht mehr in Frage. Allerdings habe die Bewegung das demokratische Mandat erhalten, den Weg zu einer katalanischen Republik zu beschreiten: »Der Prozess ist am Sonntag unumkehrbar geworden.«

Euphorisch nahmen die prospanischen »Ciutadans« (Bürger) ihr Ergebnis auf. Die rechte Protestpartei wurde mit 17,9 Prozent und 25 Sitzen zweitstärkste Kraft. Ihre Spitzenkandidatin Inés Arrimadas erklärte sich zur Gewinnerin der Wahl und forderte gleich mal den Rücktritt von Mas und Neuwahlen. Bei den spanischen Kongresswahlen am 20. Dezember können die »Ciudadanos« nun mit Rückenwind rechnen – zu Lasten der Volkspartei (PP) von Ministerpräsident Mariano Rajoy. Diese erlebte am Sonntag einen Einbruch, verlor acht Sitze und stellt nun die kleinste Fraktion im Regionalparlament. Trotzdem erklärte Rajoy das Wahlergebnis zu einer Niederlage für Mas und die Unabhängigkeitsbewegung. Forderungen nach einem Referendum über die Eigenständigkeit Kataloniens erteilte er wieder eine Absage: Er akzeptiere nichts außerhalb des Rahmens der spanischen Verfassung.
veröffentlicht in jw am 29_9_2015