Puigdemont spielt auf Zeit

Foto: Mela Theurer

Katalanischer Ministerpräsident proklamiert Unabhängigkeit – und setzt sie gleich wieder aus. Forderung nach Dialog mit Spanien

Mehr als 120 Journalisten hatten sich am Dienstag für die Plenarsitzung des katalanischen Regionalparlaments akkreditiert, und sogar drei deutsche Fernsehsender übertrugen live die mit Spannung erwartete Rede von Ministerpräsident Carles Puigdemont. Dieser trat schließlich gegen 19 Uhr, mit einer Stunde Verspätung, vor die Abgeordneten.

»Der 1. Oktober ist ein historischer Augenblick«, bezog er sich auf das Unabhängigkeitsreferendum, das trotz massiver Gewalt durch die spanische Nationalpolizei und die Guardia Civil durchgeführt werden konnte. Bei einer Wahlbeteiligung von 43 Prozent stimmten dem offiziellen Endergebnis zufolge mehr als 90 Prozent dafür, Katalonien als unabhängige Republik zu konstituieren. Die andere, blutige Bilanz des Tages waren fast 900 Verletzte und zerstörte Wahllokale. Puigdemont erklärte am Dienstag: »Trotz massiver Behinderungen gab es Urnen, Wahlzettel, und dank einer breiten Unterstützung der Bevölkerung konnten die Wahllokale verteidigt werden. Die Wahlkommission wurde verhaftet, Ministerien durchsucht, Beamte und Aktivisten mit Geld- und Haftstrafen bedroht, Webseiten geschlossen und Computernetzwerke blockiert. Dennoch haben wir es geschafft, das Referendum durchzuführen.«

Dann kam schlicht und unspektakulär das, worauf alle gewartet hatten: »In diesem historischen Augenblick und als Präsident der Generalitat übernehme ich es, dem Parlament und unseren Mitbürgern die Ergebnisse des Referendums zu präsentieren, das Mandat, dass Katalonien ein unabhängiger Staat in Form einer Republik wird.«

Sofort im Anschluss setzte Puigdemont seine Worte jedoch wieder außer Kraft: »Aus Verantwortung und Respekt bitte ich das Parlament um die Aussetzung der Unabhängigkeitserklärung. Ich fordere die spanische Regierung zum Dialog und zur Akzeptanz einer Vermittlung in diesem Konflikt auf.« Für »einige Wochen« solle so Raum für Gespräche geschaffen werden, erklärte der Ministerpräsident.

Die Antwort aus Madrid ließ nicht lange auf sich warten. Aus dem Regierungspalast verlautete: »Es kann nicht sein, dass eine Unabhängigkeitserklärung abgegeben und dann ausgesetzt wird.« Vizepräsidentin Soraya Sáenz de Santamaria berief für den heutigen Mittwoch eine außerordentliche Kabinettssitzung ein und erklärte: »Der Präsident der Generalitat weiß nicht, wo er sich befindet oder wo er hinwill. Es wird keinen Dialog geben. Das Referendum wurde vom Verfassungsgericht verboten, und der Präsident sollte zur Rechtsstaatlichkeit und Normalität zurückkehren.«

Wie zu erwarten waren auch die Reaktionen der Fraktionen im katalanischen Parlament. Die postfranquistische Volkspartei (PP) und die rechtsliberalen, prospanischen Ciutadans erklärten das Referendum und infolgedessen dessen Ergebnis für illegal und forderten Neuwahlen. Der Sozialdemokrat Miquel Iceta forderte Dialog und eine Reform der spanischen Verfassung. Die antikapitalistische CUP äußerte scharfe Kritik an der Aussetzung der Unabhängigkeitserklärung. CUP-Sprecherin Anna Gabriel erklärte im Parlament: »Wir haben eine Chance verpasst. Es geht um den Aufbau einer feministischen, antirassistischen Republik ohne Grenzen.« Bei einer anschließenden Pressekonferenz bekräftigte auch der ehemalige CUP-Abgeordnete Quim Arrufat: »Nur durch eine katalanische Republik hätten wir die Möglichkeit. als gleichberechtigter Partner in Verhandlungen zu gehen.« Man gebe der Regierung einen Monat Zeit, eine Verhandlungslösung zu suchen, danach solle die Unabhängigkeit durchgesetzt werden. Die Antikapitalisten beraten zudem, ihre Mitarbeit im Parlament bis dahin einzustellen.

Gespräche forderte auch der Chef der spanischen Linkspartei Podemos, Pablo Iglesias. Am Vortag hatten bereits acht Friedensnobelpreisträger mit einer Petition in die Diskussion eingegriffen und beide Seiten zum Dialog aufgerufen. Bislang lässt Madrid dafür jedoch keine Bereitschaft erkennen.

veröffentlicht in jw am 10_10_2017_online