Sprache der Gewalt

Foto: Mela Theurer

Staatliche Angriffe auf das Referendum fordern Hunderte Verletzte. Premier Rajoy lobt Vorgehen der Polizeikräfte

Die Bilder sprechen für sich. Mit rücksichtsloser Gewalt drangen Guardia Civil und Nationalpolizei am Sonntag in etliche Wahllokale des katalanischen Unabhängigkeitsreferendums ein. Wer ihnen im Weg stand, ob jung oder alt, bekam den Knüppel zu spüren. Frauen wurden an ihren Haaren aus Sitzblockaden gezogen, Gummigeschosse kamen zum Einsatz. Nach Angaben der Regionalregierung wurden bei den Einsätzen der Beamten mindestens 840 Personen verletzt, zwei davon schwer. Die Bilanz eines Wahltages, der trotz der Drohungen aus Madrid für viele Katalanen in euphorischer Stimmung begonnen hatte.

5,3 Millionen Wahlberechtigte waren aufgefordert gewesen, über die Unabhängigkeit der autonomen Gemeinschaft im Nordosten Spaniens abzustimmen. Trotz vorhergehender Durchsuchungen und Verhaftungen, sogar einer Abschaltung der Informatik des katalanischen Wahlzentrums, konnten die meisten, die wollten, dem Aufruf der Regionalregierung folgen. Etwa drei Viertel der Wahllokale, zumeist in Schulen gelegen, waren am Sonntag morgen dennoch in Funktion. Aktivisten hatten seit Tagen dort Aktionen durchgeführt, um eine Schließung der Orte durch die von Madrid dirigierten Behörden zu verhindern.

Als um punkt 9 Uhr morgens die Wahl begann, schien die Lage in der katalanischen Hauptstadt Barcelona noch ruhig. Kurz darauf der erste Zwischenfall. Polizisten stürmten brachial das Abstimmungslokal, in dem Kataloniens Ministerpräsident Carles Puigdemont beabsichtigte, seine Stimme abzugeben. Puigdemont musste auf ein anderes ausweichen. Zur selben Stunde trotzen vor dem Gymasium Pau Claris, nahe des zur Weltausstellung 1888 errichteten Arc de Triomf, etwa 50 Unabhängigkeitsverfechter dem Dauerregen. Bereits die ganze Nacht hindurch hatten sie dort gewacht. Von vier Jugendlichen, die im Vorrübergehen eines ihrer Transparente herunterreißen und ihnen »Es lebe Spanien!« zurufen, lassen sie sich nicht provozieren.

Bereits um 6 Uhr früh hatten an der Schule Angehörige der Mossos d’Esquadra, der katalanischen Regionalpolizei, vorbeigeschaut und ihren Auftrag ausgeführt, darauf hinzuweisen, dass das Gebäude zu räumen sei. Als wenig später die Wahlurnen eintrafen, wurden diese unter großem Jubel und mit dem Ruf »Votarem!« (Wir werden wählen!) in Empfang genommen. Nachbarn kamen vorbei und brachten Kaffee, Brötchen und Kuchen. Ältere Menschen trafen mit dem Taxi bei ihrem Wahllokal ein. Die Abstimmung konnte beginnen. Doch es gab auch einen neuen Hinweis der Mossos – dass Nationalpolizei und Guardia Civil anderswo bereits Räumaktionen durchführe, und es wohl auch hier nur »eine Frage von Stunden« sei.

So lange dauerte es dann nicht. Bald, nachdem der erste Umschlag mit dem Wahlzettel in der Urne gelandet war, schlug die Lage um. Die Nationalpolizei war im Anmarsch, stand bereits am Zaun des Schulhofs. Vor ihnen bildeten Jugendliche rasch Ketten und eine Sitzblockade. Mit großer Brutalität schlugen die Beamten auf deren Köpfe ein, bahnten sich ihren Weg. Ein Augenzeuge spricht anschließend von »purem Sadismus«. Deren Opfer ist auch die Vorsitzende des Wahlausschusses, der mehrere Finger gebrochen werden. Die Nationalpolizei beschlagnahmt schließlich die Urnen. An diesem Ort ist die Wahl gelaufen. Doch die Demokratie lässt sich nicht überall in Katalonien abwürgen.

Am Abend leugnet Spaniens Premier Mariano Rajoy glattweg, dass Katalonien überhaupt ein Referendum erlebt hat, tut es als Show ab. Er lobt die »Stärke« des Rechtsstaats und das Durchgreifen der Sicherheitskräfte gegen die als illegal gebrandtmarkte Abstimmung. Spaniens Staatschef bezeichnet sich auch noch als dialogbereit. Was er darunter versteht, wurde an diesem Sonntag deutlich.

veröffentlicht in jw am 2_10_2017