Pep Musté i Nogué: Madrid hat uns lange unterschätzt

1-09-DSC_0172
Foto: Mela Theurer

1992 wurden im Vorfeld der Olympischen Spiele in Barcelona mehr als 60 Angehörige linker Gruppen festgenommen. Die Operation richtete sich nicht nur gegen Mitglieder der Untergrundorganisation Terra Lluire (Freie Heimat), sondern gegen die gesamte katalanische Unabhängigkeitsbewegung. Einer der 25 Aktivisten, gegen die schließlich Anklage erhoben wurde, war Pep Musté i Nogué. Er wurde als Mitglied von Terra Lliure zu 85 Jahren Haft verurteilt und saß bis

1996 im Gefängnis. Zusammen mit ehemaligen Mitstreitern verklagte er den spanischen Staat vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in Strasbourg, nachdem die spanische Justiz Foltervorwürfen nicht nachgegangen war. 2004 verurteilte der EGMR das Königreich weil es den Foltervorwürfen nicht nachgegangen ist. Heute ist Pep Musté Mitglied in der Katalanischen Nationalversammlung (ANC) sowie des Linksbündnisses Kandidatur der Volkseinheit (CUP)

Vor 25 Jahren ging die spanische Justiz massiv gegen die katalanische Linke vor. Doch die Zeiten haben sich geändert. Gespräch mit Pep Musté i Nogué

Genau 25 Jahre nach dem Schlag gegen die Unabhängigkeitsbewegung hat sich das politische Panorama in Katalonien deutlich verändert. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Wir sehen uns einem Erstarken des Independentismus, der Unabhängigkeitsbewegung, gegenüber. Die eher konservativen katalanischen Parteien sind auf den Zug aufgesprungen, und selbst viele, die sich nicht als Independentistas definieren, treten für eine Loslösung vom spanischen Staat ein.

Einer der Schlüsselpunkte für diesen Wandel war die Reform des Autonomiestatuts, die 2005 im katalanischen Parlament verabschiedet wurde. Die linke Unabhängigkeitsbewegung war dagegen, weil wir sie als systemkonform und unzureichend betrachteten. Doch die PP-Regierung startete ihre Kampagne gegen die Reform, so dass das Statut in wesentlichen Punkten beschnitten wurde. Die Enttäuschung darüber bewirkte bei vielen eine politische Neuorientierung.

Auch die Finanzpolitik des spanischen Staates mit der Umverteilung der Steuergelder spielte eine Rolle. Sie bekam im Zusammenhang mit der sogenannten Wirtschaftskrise noch einmal eine neue Bedeutung, als der spanische Staat wegen der von der EU auferlegten Maßnahmen vor allem die Ausgaben im Sozialbereich kürzte.

Vor diesem Hintergrund gründete sich die Katalanische Nationalversammlung, die ANC. In sehr kurzer Zeit wuchs sie zu einer starken Kraft. Gemeinsam mit Òmnium Cultural versteht sie es, eine breite Öffentlichkeit für Demonstrationen zu gewinnen und auf die Politiker Druck auszuüben.

Wie reagiert die spanische Regierung darauf?

Madrid sieht sich inzwischen drei Millionen Menschen gegenüber, die über die Frage der Unabhängigkeit abstimmen wollen. Die Regierung versucht das auf juristischem Weg und durch verbale Einschüchterung zu verhindern. Ich persönlich hätte vom spanischen Staat eine andere, härtere Antwort auf diesen Prozess erwartet, in Form von personalisierter Repression, Festnahmen und individuellen Einschüchterungsversuchen. Dass dies bisher nicht passierte, kann ich mir nur so erklären, dass der spanische Staat gegenüber der EU Verpflichtungen hat, was demokratische Rechte betrifft. Da es sich bei der derzeitigen Unabhängigkeitsbewegung um eine demokratische und gewaltfreie handelt, ist eine willkürliche Repression schwer zu rechtfertigen. Zudem habe ich den Eindruck, dass sie die Situation bis vor kurzem unterschätzt haben. Dennoch kann ich mir durchaus vorstellen, dass sie noch zu anderen Mitteln greifen werden.

Fast alle Initiativen seitens der katalanischen Regierung bezüglich des Referendums wurden vom Verfassungsgericht verboten. Wird es die Abstimmung trotz eines Verbots geben?

Das Regierungsbündnis Junts pel Sí hat bis zum letzten Moment auf Verhandlungen mit der Zentralregierung gesetzt, zu denen diese nie bereit war. Alle Initiativen im Zusammenhang mit dem Referendum wurden statt dessen vor das Verfassungsgericht gebracht und von diesem erwartungsgemäß verboten. Nach dem Druck der CUP und der Basisbewegung auf die katalanische Regierung wurde letztlich der 1. Oktober als Termin für einen bindenden Volksentscheid festgelegt. Das Übergangsgesetz soll die juristischen Grundlagen für den Übergang zu einer katalanischen Republik sichern und bald im Parlament verabschiedet werden. Es sieht unter anderem vor, dass im Falle einer Mehrheitsentscheidung zwei Tage später die Republik Katalonien ausgerufen wird. Daran möchte ich gerne glauben, auch wenn mein Vertrauen in die Regierungspolitiker begrenzt ist. Die CUP hat immer auf die Strategie des Ungehorsams gesetzt, weil wir davon ausgehen, dass es unmöglich ist, mit der spanischen Regierung eine Übereinkunft zu erzielen, und wir auch nicht die Notwendigkeit sehen, sie dafür um Erlaubnis zu bitten.

Sie selbst sind überzeugt, dass das »Ja« gewinnt. Was macht Sie so sicher?

Einerseits die Haltung des spanischen Staates. Wenn er von der Möglichkeit ausginge, dass es eine Mehrheit gegen die Unabhängigkeit gäbe, würde er das Referendum nicht verbieten. Andererseits sprechen die breiten Mobilisierungen der letzten Jahre dafür. Es ist ein Prozess, der von der Basis ausgeht und von ihr getragen wird. Die Politiker führen aus, was die Bevölkerung fordert, das gibt mir Sicherheit.

veröffentlicht in jw am 11_8_2017