Carme Forcadell

3-dsc_0615Carme Forcadell ist seit 2012 Präsidentin der Katalanischen Nationalversammlung ANC. Gemeinsam mit Muriel Casals von Òmnium Cultural ist sie eine der starken Frauen, die den Prozess für die Unabhängigkeit Kataloniens voranbringen. Mela Theurer sprach mit Carme Forcadell an St. Jordi, im April 2015 über ihre Erfahrungen an der Spitze der Bewegung, ihre politischen Ambitionen und über die Perspektive des katalanischen Unabhängigkeitsprozesses.

Carme Forcadell, seit drei Jahren sind Sie Vorsitzende der katalanischen Nationalversammlung ANC, zuvor waren Sie in der Plattform für die katalanische Sprache aktiv. Gab es in Ihrer persönlichen und politischen Laufbahn einen einschneidenden Moment, den Sie als Schlüsselerlebnis betrachten für Ihre Entscheidung, die Loslösung vom spanischen Staat zu fordern?

Nein, es gibt nicht so etwas wie ein Schlüsselerlebnis. Vielmehr ist es ein langsamer Prozess, bis zu dem Punkt wo klar wird, dass der Bruch die einzig mögliche Alternative ist. Es sind die Bedingungen und Entwicklungen, die mich zu der Überzeugung brachten. Ich bin nicht eines Morgens aufgewacht und dachte, dieser Staat repräsentiert mich nicht. Bis zu dieser Feststellung ist wirklich sehr viel passiert. Zum Beispiel das Thema der Stipendien für die Studierenden in Katalonien, wo aus Madrid nie Unterstützung kam. Das Thema der Autobahnen, die fast im ganzen spanischen Staat umsonst sind, hier in Katalonien zahlen wir nach wie vor dafür. Oder die Handelsinfrastruktur mit dem “mediterranen Korridor”, der von Madrid aus torpediert wird. Die staatliche Eisenbahn, die nicht funktioniert und wo es jeden Tag Verspätungen, Ausfälle und Pannen gibt. Oder nimm die Frage der katalanischen Sprache im EU-Parlament. Sie ist dort nicht als offizielle Sprache vertreten, weil sich der spanische Staat weigert.

Würde der spanische Staat für Vielfältigkeit, Toleranz und Achtung gegenüber der unterschiedlichen Kulturen stehen, die in ihm vereint sind, wäre es eine andere Geschichte. Aber so reiht sich eine Sache an die andere bis man sieht, dieser Staat bietet keine Lösungen.

Welche Bedeutung hatte dabei die Beschneidung des Autonomiestatuts durch das Verfassungsgericht 2010?

Das war natürlich einschneidend, aber ich war bereits vorher davon überzeugt, dass wir von dem Staat nichts mehr zu erwarten hatten. Aber letztendlich hat es bewirkt, dass viele Menschen, ihre Meinung hinsichtlich des Staates änderten. Dies Urteil war sehr erniedrigend für die katalanische Bevölkerung. All diejenigen, die bis dahin noch glaubten, dass es einen Dialog, eine Verständigung geben könnte, sahen sich plötzliche einer Arroganz und Missachtung gegenüber, wie sie deutlicher nicht hätte sein können. Das Statut war von der katalanischen Regierung 2005 verabschiedet worden und schliesslich kam es 2010 zum Urteil des Verfassungsgerichtes wobei es in seinen Grundzügen beschnitten wurde. Das kam nicht unerwartet, da es insgesamt eine Geringschätzung und eine Überheblichkeit des spanischen Staat gab.

Wenn Sie jetzt zurückblicken auf die Zeit als Vorsitzende der ANC. Was waren die wichtigsten und bewegendsten Momente darin?

Ich bin der Meinung, dass es noch zu früh ist, eine historische Einschätzung über die Bewegung zu geben. Aber man kann sagen, dass wir einen sehr wichtigen Schritt taten. Für mich persönlich war eines der wichtigsten Ereignisse, als ich 2012 vor das katalanische Parlament trat, um die Unabhängigkeit und Loslösung von Spanien zu fordern. Die Via Catalana* war ebenfalls ein sehr wichtiges Ereignis, sie war logistisch und politisch gesehen eine sehr grosse Herausforderung. Das war natürlich unheimlich bewegend. Auch die darauffolgende diada mit dem V-Mosaik, das die Strassen Barcelonas füllte war sehr wichtig, denn es war einfach unvorstellbar, dass wir dieses Mosaik mit seinen vier Streifen tatsächlich füllen konnten, aber die Beteiligung war immens und wir haben es geschafft. Im Moment gibt es viele bewegende Momente, ich kann wahrscheinlich erst aus der Distanz heraus sagen, welches für mich persönlich das wichtigste Ereignis war.

Was war der schwierigste Moment für die ANC?

Ich glaube der schwierigste Moment war nach dem 9. November** als es schien, dass sich die Unabhängigkeitsparteien nicht einigen konnten. Ja, das war in der Tat für mich persönlich, aber auch für die ANC und das ganze Land der schwierigste Moment. Wir dachten, jetzt müssen Wahlen einberufen werden, aber es geschah nichts. Die Leute waren sauer, resigniert… Aber der gesellschaftliche Druck blieb bestehen und so kams dann letztendlich doch zur Einberufung der Wahlen für September. Es ist nicht das Verdienst der ANC sondern der gesamten Mobilisierungen und aller Personen, die entschieden dafür eingetreten sind. Vielleicht stand die ANC an der Spitze, aber letztendlich war es die gesamte Gesellschaft, die für den Wandel steht.

Welche Bedeutung hat es, dass an der Spitze der beiden Bewegungen die den Prozess für die Unabhängigkeit massgeblich mitbestimmen, ANC und Òmnium Cultural, Frauen stehen? Im Gegensatz zu deren Einheitsbestrebungen kann sich die  männerdominierte Politikerseite derweilen nur schwer einigen.

Ich behaupte schon lange, dass an der Spitze der Bewegungen in Wirklichkeit die Frauen stehen. Die Frauen haben sich immer um sie soziale Frage gekümmert. Òmnium beispielsweise als soziale und kulturelle Organisation erlangte eine wichtige Bedeutung. Wir Frauen arbeiten lange und kontinuierlich in diesen Organisationen und Bewegungen, meist auf freiwilliger Basis. Wir haben unseren Job und nebenher machen wir diese unbezahlte Arbeit. Auf der anderen Seite stehen die bezahlten Politiker, in der Mehrzahl Männer. Nun hat sich hier das Szenarium etwas geändert, weil die Basisbewegung soviel Kraft entwickeln konnten. Ich glaube, dass wir Frauen anders an Dinge herangehen und das ermöglicht es uns vielleicht, leichter Übereinkünfte zu treffen oder Prozesse gemeinsam voranzutreiben.

Sie haben angekündigt, die Präsidentschaft abzugeben. Welche Ambitionen haben Sie? Können Sie sich die Teilnahme an einer Kandidatur vorstellen?

Im Moment brauche ich erst einmal eine Pause, um mich zu erholen. Wir haben einen übervollen Terminkalender, hetzen von einer Veranstaltung zur nächsten. Wenn ich die Präsidentschaft abgebe, möchte ich in Ruhe über meine Perspektiven nachdenken und mich dann entscheiden.

Carme Forcadell als erste Präsidentin einer katalanischen Republik?

(lacht) Im Moment sehe ich das nicht. Wichtig ist, dass die Wahlen durchgeführt werden. Und ich bin überzeugt, dass es mit Convergència, ERC und der CUP eine sobiransitische Mehrheit im Parlament geben wird. Aber das wird ein schwieriger Prozess, da wird viel Überzeugungsarbeit nötig sein. Ich stimme da mit Quim Arrufat überein, der sagte: “Es ist noch nichts gewonnen, das müssen wir uns erst erarbeiten.”

Dafür wünsche ich Ihnen allen viel Erfolg und bedanke mich herzlich für das Gespräch!

*Via Catalana: Mobilisierung zum katalanischen Nationalfeiertag am 11. September 2013 durch die ANC, an der ca. 1.600.000 Personen eine 400 km lange Menschenkette bildeten.

**9. November: Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens. Von 2,3 Millionen der 6, 3Millionen Stimmberechtigten entschieden sich über 80 % für die Loslösung vom spanischen Staat.