Pep Musté i Nogué

1992 wurden im Vorfeld der olympischen Spiele in Barcelona über 60 Personen aus der linken katalanischen Unabhängigkeitsbewegung festgenommen. Die sogenannte Operació Garzón, die den Namen des ermittelnden Richters Baltasar Garzóns trug, richtete sich nicht nur gegen die Mitglieder der bewaffneten Organisation Terra Lluire – Freies Land, sondern gegen die gesamte Unabhängigkeitsbewegung. Fast ausnahmslos erstatteten die Festgenommenen nach ihrer Überstellung an den zuständigen Richter Garzón Anzeige wegen Folter während ihrer Inkommunikationshaft bei der Guàrdia Civil. Dokumentiert wurden Foltermethoden wie Elektroschocks, Scheinhinrichtungen, Schläge, Tritte und Erstickungsversuche mit Plastiktüten und die sogennante Badewanne bei der der Kopf in ein Wasserbecken oder die Toilette getaucht wird. Zudem deklarierten alle Festenommenen psychische Folter, Bedrohungen und kontinuierliche Beschimpfungen. Denen ging der zuständige Richter Garzón jedoch niemals nach. Einer der 25 Personen, gegen die letztendlich Anklage erhoben wurde, war Pep Musté i Nogué, Mitglied von Terra Lliure. Er wurde zu 85 Jahren Haft verurteilt und 1996 freigelassen. Zusammen mit ehemaligen Mitstreitern verklagte er den spanischen Staat vor dem Internationalen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg.

2004 sprach der Gerichtshof Spanien für schuldig, den Foltervorwürfen nicht nachgegangen zu sein. Seit seiner Freilassung engagiert sich Pep Musté in sozialen und politischen Projekten. Er ist Internationalist und Mitglied in der Katalanischen Nationalversammlung ANC sowie der antikapitalistischen Kandidatur für die Volkseinheit CUP. Mela Theurer sprach mit ihm über die Entwicklungen der letzten 25 Jahre und das geplante Referendum am 1. Oktober

„Madrid hat uns unterschätzt: Wir haben die Angst verloren!“

Der Schlag den der Richter Baltasar Garzón gegen die linke katalanische Unabhängigkeitsbewegung führte, bedeutete faktisch das Ende der bewaffneten Organisation Terra Lliure, der Sie angehörten. Was waren die Hintergründe?

Terra Lliure hatte sich 1980 als Antwort der katalanischen Independentismusbewegung auf die politischen Entwicklungen nach dem Tod des Diktators Francos gegründet. Die katalanischen Parteien hatten nicht auf die Massendemonstrationen von 1976 reagiert und akzeptierten die Gründung der autonomen Gemeinschaften und das Autonomiestatut, bei dem der Independentismus keine Rolle spielte. So gehörte Katalonien weiterhin zu einem Staat, dessen Repräsent und Oberhaupt des Militärs ein von Franco eingesetzter Monarch war. Ehemalige Franquisten blieben in Politik, Wirtschaft und Justiz und es gab keine Aufarbeitung der Geschichte und keine Anklage von Verbrechen während des Franquismus. Auf diesem Hintergrund gab es die strategische Überlegung, den bewaffneten Kampf aufzunehmen.

Als schließlich Barcelona als Austragungsort für die Olypischen Spiele 1992 gewählt wurde, analysierten wir zwei wesentliche Konsequenzen daraus. Einerseits sahen wir eine Vereinnahmung der katalanischen Gesellschaft und den Versuch, ihr einen spanisch-nationalistischen Stempel aufzudrücken. Andererseits die Gefahr, dass die Olympiade den Weg für einschneidende soziale Veränderungen bereitete. Konkret bedeutete dies die Umstrukturierung ganzer Stadtteile, einhergehend mit Immobilienspekulation, Luxussanierung und Gentrifikation. Blicken wir aktuell auf die Mobilisierungen der letzten Jahre zurück, richten die sich zum Teil genau auf das, was wir als Konsequenz der Spiele befürchteten: Spekulation, Vertreibung, Verteuerung des Wohnraums und damit einhergend Zwangsräumungen. Eine Entwicklung, deren Ursache nicht die Olympiade war, die aber zur Legitimierung und Beschleunigung dieses Prozess diente.

Die Repression gegen uns war paktiert worden. Im Vorfeld der Spiele hatte es Treffen zwischen der sozialdemokratischen Regierung PSOE unter dem damaligen Ministerpräsidenten Felipe Gonzalez, mit dem katalanischen Präsidenten Jordi Pujol von der national-konservativen Partei CiU, dem sozialdemokratischen Bürgermeister Barcelonas Pasqual Maragall und Repräsentanten der Guàrdia Civil gegeben. Deren Ziel war es, die militante Independentismusbewegung zu zerschlagen. Diese Operation, die eigentlich gegen Terra Lliure gerichtet sein sollte, weitete sich jedoch ziemlich schnell auf die gesamte linke Unabhängigkeitsbewegung aus. Die Massenbewegung MDT, die katalanischen Sozialdemokraten der ERC und auch die Kultureinrichtung Òmnium Cultural waren davon betroffen. Selbst diejenigen, die mit einer Repression gegen Terra Lliure einverstanden waren, mussten nun sehen, dass es ein Schlag gegen die gesamte katalanische Bewegung war, nicht nur deren militanten Teil. Es verbreitete sich eine Situation von großer Angst, aber nach und nach auch von Solidarität.

25 Jahre nach dem Schlag gegen die Unabhängigkeitsbewegung hat sich das politische Panorama in Katalonien deutlich verändert. Wie bewerten Sie diese Entwicklung und die Reaktion der spanischen Regierung darauf?

Wir sehen uns definitiv einer Erstarkung des Independentismus, der Unabhängigkeitsbewegung,  gegenüber. Die eher konservativen katalanischen Nationalisten sind auf den Zug aufgesprungen und selbst viele, die sich nicht als Independentisten definieren, optieren für eine Loslösung vom spanischen Staat. Einer der Schlüsselpunkte war die Reform des Autonomiestatuts, die 2005 im katalanischen Parlament verabschiedet wurde. Die linke Independentismusbewegung war dagegen, weil wir sie als systemkonform und unzureichend betrachteten, aber andere Parteien setzten darauf. Schließlich startete die PP-Regierung ihre Kampagne dagegen und das Statut wurde in wesentlichen Punkten beschnitten. Die Enttäuschung darüber bewirkte bei vielen eine politische Neuorientierung. Auch die Finanzpolitik des spanischen Staates mit der Umverteilung der Steuergelder spielte eine Rolle. Dies bekam im Zusammenhang mit der sog. Wirtschaftskrise noch einmal eine neue Bedeutung, als der spanische Staat durch die von der EU auferlegten Massnahmen vor allem die Ausgaben im Sozialbereich kürzte. Auf diesem Hintergrund gründete sich die Basisorgansiation Katalanische Nationalversammlung ANC. In sehr kurzer Zeit wuchs daraus eine starke Bewegung. Ich selbst bin Mitglied der ANC und obwohl ich Widersprüche dazu habe weil ich sehe, dass es sehr unterschiedliche und konkurrierende ideologische Vorstellungen gibt, schätze ich deren mobilisierenden Einfluss. Gemeinsam mit Òmnium Cultural verstehen sie es, breite Demonstrationen zu organisieren und von der Straße aus Druck auf die Politiker auszuüben. Ich persönlich hatte vom spanischen Staat eine andere, stärkere Antwort auf diesen Prozess erwartet, in Form von personalifizierter Repression, Festnahmen und individuellen Einschüchterungsversuchen. Dies halte ich noch durchaus für möglich. Dass es bisher nicht passierte, kann ich mir nur so erklären, dass der spanische Staat gegenüber der EU Verpflichtungen hat, was demokratische Rechte betrifft. Und da es sich bei der derzeitigen Unabhängigkeitsbewegung um eine pazifistische und demokratische handelt, ist eine willkürliche Repression nach außen schwer zu rechtfertigen. Zudem habe ich den Eindruck, dass sie die Situation bis vor kurzem noch unterschätzt haben. Sie versuchten durch Einschüchterung Angst zu verbreiten. Angst ist in diesem Staat noch immer ein Erbe der franquistischen Repression. Doch nun hat die Bevölkerung diese Angst verloren. Andererseits reduzierte die Zentralregierung das Problem bisher weitgehend auf ein ökonomisches und versuchte mit Aussichten auf eine veränderte Finanzpolitik zu spalten und den Prozess zu stoppen. Obwohl ich selbst nicht viel Vetrauen in die Politiker habe, denke ich, dass dieser Zug abgefahren ist. Nun sieht sich Madrid einer Situation gegenüber, in der über 3 Millionen Personen bereit sind, über die Frage der Unabhängigkeit abzustimmen. Derzeit versuchen sie dies noch über den juristischen Weg, aber auch über Propaganda und Einschüchterung zu verhindern. Dennoch kann ich mir durchaus vorstellen, dass sie noch zu anderen Mitteln greifen werden.

Wie ist die Haltung der katalanischen Polizei – den Mossos d’Esquadra? Wird sie die Durchführung des Referendums garantieren?

Das kann ich nur schwer einschätzen. Es gibt einen starken Druck auf die Beamten, die gegenüber der Verfassung und den spanischen Gesetzen und Gerichtsentscheidungen verpflichtet sind. Gleichzeitig gibt es das von der katalanischen Regierung und der CUP entworfene Gesetz, welches die juristischen Grundlagen beim Übergang Kataloniens von einer autonomen Gemeinschaft zu einer unabhängigen Republik sichern soll. Darin wird die Rolle der Beamten klar definiert. Es wird sich zeigen, wer letztendlich den grösseren Einfluss haben wird.

Alle Gesetzesinitiativen, die die katalanische Regierung bisher vorgeschlagen und verabschiedet hat, wurden vom Verfassungsgericht verboten. Wird es trotz Verbots ein Referendum geben?

Das Regierungsbündnis Junts pel Sí hat bis zum letzten Moment auf Verhandlungen mit der Zentralregierung gesetzt, zu denen diese nie bereit war. Alle Initiativen im Zusammenhang mit dem Referendum wurden stattdessen vor das Verfassungsgericht gebracht und von diesem erwartungsgemäss verboten. Nach dem Druck der CUP und der Basisbewegung auf die katalanische Regierung wurde letztendlich der 1. Oktober für die Abhaltung eines bindenden Volksentscheides festgelegt und es werden Vorbereitungen getroffen, um Garantien zu schaffen. Das llei de transitorietat ist z.B ein Gesetz das die juristischen Grundlagen für den Übergang zu einer katalanischen Republik sichern nach dem 1. Oktober publiziert werden soll. Zudem sieht das Referendumsgesetz vor, dass im Falle einer Mehrheitsentscheidung für die Unabhängigkeit zwei Tage nach der Wahl die Unabhängige Republik Kataloniens ausgerufen wird. Daran möchte ich gerne glauben, auch wenn mein Vertrauen in die Regierungspolitiker begrenzt ist. Die CUP hat immer auf die Strategie des Ungehorsams gesetzt, weil wir davon ausgehen, dass es unmöglich ist, mit der spanischen Regierung eine Übereinkunft über die Abhaltung eines Referendums zu erzielen und wir auch nicht die Notwendigkeit sehen, sie dafür um Erlaubnis zu bitten.

Die sozialdemokratische PSOE ist gegen ein Referendum und podemos verteidigt das Recht auf eine Befragung, negiert jedoch einen bindenen Charakter, solange es nicht zu einer Übereinkunft mit der spanischen Regierung kommt. Das linke Bündnis Catalunya en Comú ist bezüglich dieser Frage gespalten. Wird die Haltung dieses Linksbündnisses einen entscheidenden Einfluss auf das Wahlergebnis haben?

In dem Bündnis Catalunya en Comú sind verschiedene Parteien organisiert, die natürlich unterschiedliche Ideologien und dementsprechend auch unterschiedliche Positionen zum Referendum und dessen bindende Wirkung haben. Letztendlich gehe ich jedoch davon aus, dass die Basis das tun wird, was sie möchte und es werden sicher viele aus diesem Spektrum zur Wahl gehen und auch für Ja votieren. Die rechten Parteien haben ganz klar zum Wahlboykott aufgerufen. Aber ich denke, damit schneiden sie sich ins eigene Fleisch. Denn das Thema Wahlbeteiligung behandelt die Venediger Kommission und auch das Übergangsgesetz. Wenn wir uns mit Quoten oder Zahlen beschäftigen, ab welcher Wahlbeteiligung das Referendum gültig ist, bewegen wir uns auf wackligem Boden. Wenn jedoch feststeht, dass es sich um ein bindendes Referendum mit klarer Fragestellung handelt, hat jede Person das Recht und die Möglichkeit darüber abzustimmen. Am Ende gibt es ein Ergebnis und die Mehrheit setzt sich durch. So funktioniert letztendlich Demokratie.

Sie selbst sind überzeugt, dass das “Ja” gewinnt. Was macht Sie so sicher?

Einerseits die Haltung des spanischen Staates. Wenn er von der Möglichkeit ausginge, dass es eine Mehrheit gegen die Unabhängigkeit gäbe, würde er das Referendum nicht verbieten. Andererseits sprechen die breiten Mobilisierungen der letzten Jahre dafür. Es ist ein Prozess, der von der Basis ausgeht und von ihr getragen wird. Die Politik führt aus, was die Bevölkerung fordert, das gibt mir Sicherheit.

In gekürzter Form erschien das Interview:

veröffentlicht in jw am 11_8_2017