Suat Çorlu

4-dsc_0851Suat Çorlu ist im Vorstand der sozialistischen  ESP, welche in der HDP, (Demokratische Partei der Völker) organisiert ist. Mela Theurer sprach mit ihm über die Moblisierungen zum 1. Mai 2016 in Istanbul, die Repression gegen die Parteistrukturen und die Zivilbevölkerung in Kurdistan, sowie über die Perspektive von Friedensverhandlungen im Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Befreiungsbewegung, nachdem die konservative Regierung Erdogans liberale und linke Intellektuelle,  Journalisten und OppositionspolitikerInnen verfolgt und kriminalisiert.

Dieses Jahr soll die traditionelle 1. Mai Demonstration nicht am Taksim-Platz stattfinden. Weshalb wurde sich für eine Verlegung außerhalb des Stadtzentrums und dieses emblematischen Ortes entschieden?

Die letzten Jahre fanden die 1. Mai-Demonstrationen trotz Verbot am Taksim-Platz statt, man hatte dorthin zu den verbotenen 1. Mai Demos mobilisiert. Sämtliche Straßen abgesperrt und die Busse, die aus den Stadtteilen dorthin kamen, angehalten. Aufgrund des Verbots wurden den Leuten Transparente, Flaggen etc. abgenommen. Auch dieses Jahr haben wir versucht, die Demo am Taksim-Platz anzumelden, was vom Gouverneur abgelehnt wurde.

Mit welcher Begründung?

Mit der Begründung, dass der Taksim-Platz für Kundgebungen verboten ist. Der Taksim-Platz ist mit dem Gezi-Widerstand verbunden, der sich gegen die AKP-Regierung richtete und von daher lässt der Staat keine demokratischen Kundgebungen von linken Kräften dort zu. Zudem ist Taksim ein Symbol für den 1. Mai und die Arbeiterbewegung.

Die Demonstrationen wurden ja auch in der Vergangenheit verboten. Warum wird nun dieses Jahr nicht am Taksim festgehalten und wie ist es generell um das Recht auf Demonstrationsfreiheit in der Türkei bestellt?

Die Entscheidung für ein Demoverbot am Taksimplatz trifft in Wahrheit nicht der Gouverneur von Istanbul. Es ist eine politische Entscheidung, die in Ankara von Erdogan getroffen wird. Alle Kundgebungen, die die AKP angreifen oder gegen den Präsidenten gerichtet sind, werden automatisch verboten. Normalerweise gibt es das Recht auf Kundgebungen, Demonstrationen und Pressefreiheit, aber das wird momentan alles beschnitten. Die Repression ist groß, so werden GenossInnen, die in den Stadtteilen zum 1. Mai mobilisieren während sie Flyer verteilten, festgenommen. Derzeit können wir von einem zivilen Putsch sprechen, bei dem die Verfassung außer Kraft gesetzt wird. Alle, die AKP-kritisch sind, sei es AkademikerInnen oder JournalistInnen werden festgenommen. Allein die Forderung nach einer friedlichen Lösung im Konflikt in Kurdistan reicht aus, um auf die Anklagebank zu kommen, wie beispielsweise im Falle der kürzlich verhafteten Akademiker. Aufgrund dieser Eskalation seitens der AKP-Regierung haben die Mehrheit der Parteien und Gewerkschaften des 1. Mai-Komitees dieses Jahr beschlossen, nicht am Taksim-Platz festzuhalten. Die Bombenanschläge der letzten Monate haben bei einem Teil der Bevölkerung zusätzlich Angst hervorgerufen. Deshalb hat das Vorbereitungskomitee entschieden, den ersten Mai zu deeskalieren. Es soll zu einer friedlichen und als breiten Veranstaltung mobilisiert werden, auf der sich die Masse sicher fühlen kann. Wir waren eigentlich dafür, am Taksim-Platz festzuhalten, haben uns dann jedoch der Mehrheit angeschlossen.

Bei einem Festhalten am Taksim-Platz wäre die Konfrontation vorprogrammiert. Es geht also um Deeskalation und eine breite Mobilisierung. Wen bezieht diese ein und was ist in den traditionell kämpferischen ArbeiterInnenvierteln zu erwarten?

Das erste Mai-Komitee hat beschlossen, von zwei Sammelpunkten aus auf den zentralen Baraköy Kundgebungsplatz hin zu mobilisieren. Um 13.00 findet dort die Kundgebung statt. Zur Demo rufen die 4 großen Gewerkschaftsverbände auf und bis auf einige Ausnahmen, alle linken Parteien. Einige Gruppen werden auch versuchen, zum Taksim durchzukommen. Es sind dieselben Parteien und Gewerkschaften die aufrufen wie in den vergangenen Jahren. In den Arbeitervierteln wird dieses Jahr nicht so viel erwartet, da es ja diesen zentralen Aufruf gibt, da lief normalerweise meistens dann etwas, wenn die Demos verboten wurden, bzw. wenn es kein Durchkommen gab.

Welche Haltung von Seitens des Staates erwarten Sie? Ist aufgrund der außerordentlichen Polizeipräsenz Repression zu erwarten? Taksim ist bereits jetzt weiträumig abgesperrt.

Falls die Polzeipräsenz abnimmt, werden wir zum Taksim ziehen. Im Moment ist der Taksim jedoch abgeriegelt. Unsere Haltung auf den Taksim-Platz zu verzichten ist ein Zugeständnis, wir sind quasi einen Schritt zurück gegangen. Von daher denken wir nicht, dass es eine große Repression gegen uns gegen wird.

Taksim ist einerseits Symbol der Arbeiterbewegung, aber auch des Gezi-Widerstandes. Was ist aus dieser Bewegung geworden?

Gezi war eine sehr heterogene Bewegung. Viele Leute kamen aus dem Stadtteil und waren erstmal nicht organisiert. Es waren jedoch auch Parteien und Gewerkschaften vertreten. Die meisten Aktivisten waren Leute, die den Erhalt des Gezi-Parks zu ihrer Sache gemacht haben. Danach gingen sie wieder nach Hause.

Man kann es jetzt sicherlich nicht mit der Empörten-Bewegung in Frankreich oder im spanischen Staat vergleichen, die vor 5 Jahren ebenfalls Plätze besetzte und soziale Forderungen stellte. Der soziale und politische Hintergrund ist definitiv ein anderer, es gab jedoch eine ähnliche Organsiationsform,, Diskussionsforen und einen Zusammenhalt gegen Polizeigewalt. Resultierte eine nennenswerte Politisierung oder neue Organisationsform aus der Gezi-Bewegung heraus?

In der Tat war die Entstehung der Empörten-Bewegung eine Antwort auf die neoliberale Politik in Europa. In Gezi waren ganz unterschiedliche Leute anwesend. Es ging um ein ökologisches Projekt, es ging darum die Bäume zu schützen und es ging zudem um die Unterdrückung durch die AKP. Daraus ist keine neue Organisationsform entstanden. Das Neue war vielmehr, dass unterschiedlichen Leute ohne poltische Vorgeschichte und Hintergrund aktiv wurden. Aber das war nicht nachhaltig. Trotzdem kann es je nach Umständen punktuell wieder Anknüpfungspunkte geben.

Gegen die ESP, in deren Vorstand Sie sind, gab es seit ihrer Gründung eine starke Repression. Im vergangenen Dezember wurden zwei Militante der Partei von der Polizei in einer Istanbuler Wohnung erschossen. Wie ist die aktuelle Situation?

Die ESP ist eine Partei, die für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter eintritt. Gleichzeitig stehen wir für die Forderung nach Freiheit des kurdischen Volkes. Die Kurdenfrage ist momentan der Hauptkonflikt im Türkischen Staat, es war schon immer ein sensibles Thema. Wir haben seit unserer Gründung die Rechte der kurdischen Bevölkerung gefordert und vertreten. Die Türkei versucht in diesem vielschichtigen Konflikt ihre Verbündeteten, die EU und die NATO auf ihre Seite zu ziehen. Dies geschieht auf verschiedenen Ebenen, z.B. mit der Einrichtung sog. Schutzzonenen an der Grenze oder durch die Illegalisierung und Deklarierung der PKK als terroristische Vereinigung. In diesem Rahmen, da wir uns auf die Seiten der Unterdrückten und des kurdischen Volkes stellen, ist es ganz normal, Repression zu erfahren. Die Ermordung der beiden Genossinnen im Dezember markiert eine jedoch spezielle Situation. Es ist nicht zufällig, dass es sich dabei um Frauen handelt. Es war eine regelrechte Hinrichtung durch mehrere Kopfschüsse aus nächster Nähe. Das Ziel dieser Aktion war, ein Zeichen seitens des Staates gegen die Frauenbewegung zu setzen. Es gab eine Strategie von CIA und Mossad, die besagt: Erschießt zuerst die Frauen. Das ist das was hier im Moment passiert.

Die Morde an den kurdischen Frauen in Paris sehen Sie auch in diesem Kontext?

Die Frauenrolle in der kurdischen Bewegung ist von wichtiger Bedeutung. Der Angriff auf die drei kurdische Genossinnen ist ein Angriff auf alle Frauen und auf die kurdische Bewegung und ihren emanzipatorischen Charakter in dieser Frage.

Im Juli wurden in Sirnuk zudem durch einen Bombenangriff 33 GenossInnen von uns getötet. Die Absicht des Staates durch diese starke Repression die Organisation zu vernichten, geht jedoch nicht auf, denn es passiert genau das Gegenteil. Viele beginnen gerade erst dadurch, sich zu organisieren. Nach Sirnuk sind Hunderte gekommen und haben sich der Jugendorgansiation angeschlossen. Nach der Hinrichtung unserer Genossinnen, sind besonders viele Frauen hinzugekommen. Bei Festnahmen in den Stadtteilen entstehen dort Solidaritätsgruppen und setzen gleichzeitig die Arbeit der Verhafteten fort. Die AKP ist eine korrupte und repressive Partei, die inzwischen soweit geht, ihre politischen Widersacher auszuschalten und sei es dadurch, sie zu massakrieren. Ganz nüchtern betrachtet handelt es sich um eine ganz normale Sache, die AKP hat ihre Interessen, die sie mit allen Mitteln durchsetzt. Sozusagen tun sie eben ihren Job.

Nach der Aufnahme der Friedenvserhandlungen, dem guten Abschneiden der HDP bei den Wahlen im Juni 2015 kam quasi der Putsch der AKP. Mit den Neuwahlen im Januar eskalierte der Krieg mit Belagerungen von Städten und den Bombardierungen von Guerilla und Zivilbevölkerung im türkischen Teil Kurdistans. Wie beurteilen Sie aufgrund dessen die Perspektive eines Friedensprozesses?

Bereits während der Friedensverhandlungen stellten wir uns natürlich die Frage, welches Spiel die AKP spielt. Viele waren sich nicht sicher, ob die AKP wirklich den Friedensprozess voranbringen wollte, oder nur hinauszögerte. Es gab keine wirkliche Vertrauensbasis. Während die Verhandlungen stattfanden, wurden gleichzeitig an den Grenzen neue Militärbasen geschaffen. In den Gebieten, in denen die Guerilla operierte, wurden viele Staudämme gebaut. Viele politische Aktivisten wurden auch bereits zu dieser Zeit festgenommen. Dieser Widerspruch, dass es einerseits Gespräche gab, andererseits Repression und militärische Infrastruktur ausgebaut wurde, führte natürlich zu Misstrauen. Die Stimmen, die die HDP im Juni bekommen hatten, waren eindeutig die Stimmen für den Friedensprozess, die AKP verlor dabei erheblich. Während uns der Friedensprozess also stärkte, schwächte er gleichzeitig die AKP. Diese Ergebnisse versetzten die AKP in Angst, ihre Mehrheit als Einparteienregierung zu verlieren. Deshalb griff sie dann auf faschistische Kriegspolitik zurück. Um die Phase des 7. Juni hatten wir es geschafft, dass 15% der Bevölkerung unsere Position teilte. Nachdem jedoch die Waffen wieder sprachen, wendete sich das Blatt. Dessen ist sich die AKP bewusst und sie spekulierte darauf, die Wahlstimmen zurückzugewinnen, in dem sie Krieg und Gewalt auslöst. Nach dem sie am 1. Januar Stimmen hinzugewonnen hatte, fühlt sie sich durch diese Strategie bestätigt und weitete daraufhin den Krieg aus.

Handelte es sich dabei nicht auch um eine Spaltungstaktik? Die HDP befand sich in Friedensverhandlungen, In dem Moment wo der Staat angreift und die Guerilla zurückschlägt, wird seitens des Staates eine Positionierung von der HDP gefordert. Ging es dem türkischen Staat also darum, eine Distanzierung von HDP zu Kandil zu fordern oder falls nicht, sie als UnterstützerInnen der PKK und somit des „Terrorismus“ zu verfolgen?

Der Staat versucht nicht nur in dieser Phase, sondern ständig, zu spalten, konkret zwischen HDP, Öçalan und Kandil. Allerdings ohne wirklichen Erfolg. Obwohl in der HDP nicht nur kurdische Parteien vertreten sind, wird sie jetzt als PKK abgestempelt und kriminalisiert. Früher wurden die Kurden aufgefordert, die Waffen nieder zu legen und in die Parlamente zu gehen. Jetzt sagen sie, ihr seid Terroristen, verlasst das Parlament.

Bis Mitte der 90er Jahre hatte die PKK einen eigenen Staat gefordert, inzwischen steht sie  für eine Koföderation, aber selbst das geht der türkischen Regierung zu weit. Obwohl dies ein Schritt zurück war, kamen die Verhandlungen zum Stillstand. Welche Persepektive sehen Sie momentan einer politischen Lösung in diesem Knflikt?

Kein Krieg dauert ewig und irgendwann werden wir wieder am Verhandlungstisch sitzen. Auch wenn es momentan nicht danach aussieht, dass dies unter der aktuellen Regierung möglich wäre. Diese Regierung fördert den türkischen Nationalismus und versucht dadurch zu spalten. Aber es wird irgendwann wieder zu Verhandlungen über die nationale Frage kommen. Derzeit macht der türkische Staat jedoch kein Zugeständnis gegenüber den KurdInnen. Alle die in diesem Staat leben, sind laut der Verfassung Türken und daran wird nicht gerüttelt. Der türkische Staat hat bereits vor den Belagerungen der Städte in den kurdischen Gebieten Regionalpolitiker der DPD verhaftet. Dies führte zum Erstarken des Widerstandes. Im Vorstand der DPD befinden sich 126 Personen, 110 sind derzeit in Haft. Das bedeutet, dass dem Volk keine Alternative als der Kampf bleibt, als die einzige Antwort auf die Repression gegen legal gewählte Parlamentarier. Doch der türkische Staat geht mit grosser Härte und Terror vor. Durch die Belagerung ganzer Stadtteile werden die Menschen ausgehungert, da die Lebensmittel und vor allem die Wasservorräte zu Ende gehen. Verlassen sie die Kellerräume, werden sie erschossen. Das ist die momentane Situation in der der Frieden in weite Ferne gerückt ist.

Innerhalb der Flüchtlingspolitik der EU kommt dem türkischen Staat derzeit eine Schlüsselrolle zu. Wie beurteilen Sie die Rolle der Türkei in diesem internationalen Kontext?

Um eine Lösung in der Flüchtlingsfrage zu erreichen, müssen die Kriege beendet werden, die die Menschen zwingen zu fliehen. Es wird international viel von Syrien, den Bombardierungen und dem Krieg dort gesprochen. Im türkischen Teil Kurdistans findet ein ähnliches Phänomen statt. Leute verlassen ihre Stadtteile und Dörfer, insofern sie das noch können. Die Situation in der sich alle Flüchtlinge hier befinden ist äußserst prekär. Viele der syrischen Flüchtlinge haben zwar ihr Vermögen mitgebracht, sind jedoch gezwungen, unter sehr schlechten Bedingungen zu arbeiten. Wenn sie schließlich die Überfahrt wagen und bezahlen können, ist es nicht sicher, dass sie an ihrem Bestimmungsort ankommen. Wir alle kennen die Nachrichten und Bilder über die Toten auf dem Weg nach Europa. Nur die Beendigung des Krieges könnte die Menschen davon abhalten, ihr Leben bei einer solchen Überfahrt aufs Spiel zu setzen. Wo Krieg herrscht, gibt es Flüchtlinge, das ist die Logik. Wenn Europa die AKP bezahlt, um das Problem in ihrem Namen zu lösen, ist das der falsche Weg. Es wird die Flüchtlinge keineswegs in ihrem Versuch stoppen, in die Länder der EU zu gelangen. Und die Türkei hat natürlich eine Trumpfkarte in der Hand. Die EU wird nichts zu Menschenrechtsverletzungen sagen, weil sie auf die türkische Regierung in dieser Angelegeneheit angewiesen ist.

Wir beobachten auch, dass die Flüchtlinge benutzt werden, um die Interessen des türkischen Staates zu schützen. Syrische Flüchtlinge werden an der Grenze an den Gebieten untergebracht, wo zuvor die kurdische Bevölkerung durch Terror und Massaker vertrieben wurde. Diese sogenannten Schutzzonen an den Grenzgebieten und in Syrien dienen der Kontrolle über das Gebiet. Die Türkei hat große Angst davor, dass sich die freie Republik Rojava weiter ausdehnt und konzentriert deshalb ihren Kampf nicht auf den IS sondern gegen die kurdische Zivilbevölkerung und Guerilla.

Wie ist die Haltung der türkischen Linken gegenüber den Flüchtlingen Gibt es praktische Solidarität?

Die Frage der Flüchtlinge ist in der türkischen Linken nicht so präsent wie in Europa, obwohl viele Flüchtlinge hier prekär leben und arbeiten. Aber die Türkei ist natürlich nicht das Land, in dem sie bleiben wollen. Wir sind sozusagen Durchgangsstation und das ist ein neues Phänomen. Die konkrete Solidaritätsarbeit mit Flüchtlingen machen in der Regel die Nicht-Regierungs-Organisationen. Wir kämpfen derzeit an anderen Fronten, obwohl wir uns natürlich auch über die Bedeutung der Flüchtlingsfrage im internationalen Kontext bewusst sind.