Gemeint sind wir alle

1-dsc_0502Katalonien: Massenproteste gegen Willkürjustiz des spanischen Staats
Am Sonntag haben in Barcelona laut Polizeiangaben rund 80.000 Menschen gegen die Kriminalisierung der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung demonstriert. Unter dem Motto »Für die Demokratie – Verteidigen wir unsere Institutionen« hatten die Kulturorganisation Òmnium Cultural, die »Katalanische Nationalversammlung« (ANC) sowie der »Verband der Gemeinden für die Unabhängigkeit« (AMI) zu der Großkundgebung aufgerufen. Im Aufruf zu den Protesten wurde die juristische Verfolgung katalanischer Politiker und Institutionen angeprangert. Derzeit wird in 407 Fällen seitens der Staatsanwaltschaft und der Delegación del Gobierno ermittelt.

Letztere soll eigentlich die Zusammenarbeit zwischen der zentralstaatlichen und der katalanischen autonomen Verwaltung koordinieren, fungiert jedoch faktisch als Kontroll- und Repressionsinstanz. Den Beschuldigten werden unter anderem Rechtsbeugung, ziviler Ungehorsam, »Anstiftung zu Aufruhr und Aufstand« und Amtsmissbrauch vorgeworfen. Angeklagt sind auch etliche Mitglieder der von 2012 bis Januar 2016 amtierenden liberal-konservativen katalanischen Regierung, die am 9. November 2014 das nicht bindende Referendum über die Unabhängigkeit durchgeführt hatte.

Dem damaligen Ministerpräsidenten Artur Mas und der Vizepräsidentin Joana Ortega, der ehemaligen Erziehungsministerin Irene Rigau sowie dem damaligen Ratspräsidenten und Regierungssprecher Francesc Homs werden Amtsmissbrauch und unsachgemäßer Einsatz öffentlicher Gelder vorgeworfen. Der Vorwurf der Veruntreuung gegen Rigau, Mas und Ortega, der eine Gefängnisstrafe hätte nach sich ziehen können, war im Juli dieses Jahres zurückgenommen worden. Die amtierende Präsidentin des katalanischen Parlaments und ehemalige Vorsitzende der ANC, Carme Forcadell, wird unter anderem beschuldigt, eine Debatte über den Unabhängigkeitsprozess im Parlament zugelassen zu haben.

Der spanische Nationalfeiertag am 12. Oktober bot Madrid einen Anlass für weitere Repressalien. Mit Militärparaden und allerlei nationalem Pomp verteidigt der Staat an diesem Datum seit jeher das Prinzip seiner angeblichen Unteilbarkeit. Mehrere katalanische Gemeinden hatten den Feiertag ignoriert und ihre Rathäuser geöffnet, was offiziell untersagt ist. In Badalona, der zweitgrößten Stadt Kataloniens, wird deshalb gegen das Stadtratsmitglied Jose Téllez ermittelt. Er hatte sich einem richterlichen Beschluss nicht nur widersetzt, sondern die Anordnung über die Schließung des Rathauses in der Öffentlichkeit zerrissen.

Anderen Stadtverwaltungen wird etwa die Entfernung von Fotografien des spanischen Königs aus öffentlichen Gebäuden zur Last gelegt – wie auch die Weigerung, die spanische Flagge zu hissen bzw. die Ersetzung dieser durch die »Estelada«, die katalanische Unabhängigkeitsfahne. Am 4. November war die Bürgermeisterin der Kleinstadt Berga, Montserrat Venturós, festgenommen worden. Sie sollte über ihre Weigerung, die »Estelada« vom Rathaus zu entfernen, aussagen, hatte jedoch zwei gerichtlichen Vorladungen nicht Folge geleistet (jW berichtete). Noch am selben Abend war es in zahlreichen katalanischen Städten zu Solidaritätsbekundungen mit der Politikerin der antikapitalistischen »Kandidatur der Volkseinheit« (CUP) gekommen. Die Tatsache, dass die katalanische Polizei diese Verhaftung durchgeführt hatte und damit als ausführendes Organ der spanischen Regierung fungierte, führte zu Spannungen zwischen der katalanischen Minderheitsregierung des Bündnisses »Junts pel Sí« und der CUP, die diese unterstützt.

Die ungleiche Allianz aus dem Mitte-rechts-Bündnis und den Antikapitalisten hat bereits mehrere Krisen überstanden und befindet sich im Moment in kontroversen Verhandlungen über die Haushaltspläne. Auf der Kundgebung am Sonntag wurde trotz alledem Einheit demonstriert. Während Regionalpräsident Mas die Organisierung der Volksabstimmung mit der Befolgung seines Mandates begründete, verteidigte Bergas Bürgermeisterin Venturós einmal mehr das Recht auf zivilen Ungehorsam.
veröffentlicht in jw am 15_11_2016